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Tagebuch 1923
20 „Die Sammlung Dr. Figdors ist ein Lebenswerk ; das Werk eines fleißigen Lebens, dem
Gott die biblischen siebzig Jahre geschenkt hat ; das Werk eines zielbewußten Lebens. Das
Vielerlei der Richtungen, die Fülle der Einzeldinge werden in dem eindeutigen Willen des
Sammlers gehalten. Das was er sucht, ist nicht Kunst in dem üblichen abstrakten Sinn des
materialisierten Vorstellungsbildes ; es ist jene Kunst, die von Können herkommt ; es ist
die gute Arbeit, die er in irgendeinem Ding, das Menschenhand gefertigt hat, wertet. Es
ist eine sittliche Handwerksehrlichkeit, die er von dem Kunstwerke fordert. Vor diesem
Gewissen muß ein präzis gearbeiteter Maßstab, an dem die Ziffern der einzige Schmuck
sind, genau so bestehen wie ein Gemälde des Hieronymus Bosch“, charakterisierte ETC
diese herausragende Privatkollektion in ihrem Aufsatz „Gotische Formmodelle und die
Sammlung Figdor“, der 1919 in „Kunstchronik und Kunstmarkt“ erschien (Tietze-Conrat
1919b, 690). „It would be justifiable to call him the greatest European collector of his time“,
so Ernst Buschbeck zu Albert Figdor, in : Buschbeck 1927, 5.
Projekt „Produktivgenossenschaft“ – im Frühjahr 1924 stellte HT in der Wien-Nummer
von Paul Westheims „Kunstblatt“ das Projekt „Künstlerfonds“ der Öffentlichkeit vor :
„Zwischen Konjunktur und Stagnation eingeklemmt“, habe der Künstler jede „bürgerliche
Würde“ verloren. Es gelte daher, seiner Loslösung vom Publikum entgegenzuwirken und
den Künstler „zu ‚kapitalisieren‘ oder besser zu ‚sozialisieren‘“ (Tietze 1924c). Das sehr
persönliche Verhältnis zwischen Künstler und Fonds erinnert an die tatkräftige Unter-
stützung, die der Architekt Adolf Loos zu Beginn des Jahrhunderts dem Künstler Oskar
Kokoschka zuteilwerden ließ. Während er dem Maler Porträtaufträge vermittelte, hatte
Loos sich verpflichtet, all jene Werke anzukaufen, die die Porträtierten selbst nicht zu er-
werben beabsichtigten. So wie jetzt für Ehrlich und andere Künstler hatten auch Tietzes in
jenen Jahren unter ihren Verwandten und Bekannten zahlreiche Aufträge für Kokoschka
eingeholt.
Zu Grimschitz siehe TB 1923, 19.6.
Dies ist der Auftakt der künstlerischen Zusammenarbeit zwischen dem Maler Georg Ehr-
lich und der Dichterin ETC, die 1926 mit der Veröffentlichung des Bands „Abschied“ ih-
ren Höhepunkt und Abschluss fand (E. Tietze 1926, TB 1926, 27.3.).
21 Die Graphische Sammlung Albertina war aus der Vereinigung der ehemals erzherzogli-
chen Sammlung und der Kupferstichsammlung der ehemaligen Hofbibliothek entstanden.
ETC war in der Albertina mit der Aussortierung jenes Materials befasst, das der frühere
Eigentümer Erzherzog Friedrich als Privatvermögen zurückerhalten sollte, da es nicht dem
Fideikommiss unterlag und somit auch nicht per Gesetz vom 3.4.1919 („Habsburgerge-
setz“, StGBl., Nr. 209) staatlich geworden war. Dazu gehörten rund 3.800 Zeichnungen
und 4.600 druckgrafische Werke, die während Erzherzog Friedrichs Verwaltung zwischen
1895 und 1919 erworben worden waren (Dossi 1998, 42).
Unklar ist, ob etwa Ehrlich bereits an einer Büste von ETC arbeitete.
22 Franz Xaver Messerschmidt, Maria Theresia im ungarischen Krönungsornat, Österreichi-
sche Galerie Belvedere, Wien.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien