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Tagebuch 1924
Wir hatten keine Kunstgespräche, weil wir während des Arbeitens nie […] spre-
chen, aber gelegentlich fiel doch ein Wort. „Es gibt erotische Künstler und seelische
Künstler, aber manchmal treffen sie sich in einem Punkt.“ Oder als ich auf die Un-
möglichkeit der körperlichen Nachgestaltung seiner radierten Eva aufmerksam ma-
chen wollte : „Glauben Sie mir, ein akrobatisch geschulter Körper kann alles nachma-
chen, was einer da zeichnet.“ Dieses Paradox hat mir viel Freude gemacht. Er hat drei
Zeichnungen von mir gemacht : eine Enface sitzende mit verschränkten Armen, eine
düstere ¾ Profil, die nicht gut gelungen ist, und eine Stehende, die an dem Gewand
nestelt, wie eine Antike („Mysterium“) ; von dieser will er eine Radierung machen.
Die letzte Radierung war auch schon (einmal) gedruckt an der Wand, es wirkt so
ausdrucksstark (Maria am Grabe Christi trauernd), daß man kaum von einem Porträt
sprechen kann, obwohl es sehr ähnlich ist (auch ähnlich der Mama). Später kam Bubi
Österreicher und wir warteten den Regen ab, der aber nicht aufhören wollte. Endlich
entschloß ich mich, trotz Schneeregen und eingepackter Litho für Hans zur Alma
zu gehen, die im Bett lag und zusammen mit Dr. Stephan, Vix de Zsolnay, u. seinem
Unterläufel* die Mahlerbriefe (Register) redigierte. Am Dienstag reist sie mit Kind
und Kegel in ihr Haus in Venedig, das ihr der Agent Molls (Balboni) im Lauf des
Winters aus dem gewollten kleinen Retiro ohne ihr Wissen in ein neunzimmriges
Stockhaus umgebaut hat. Wütend darüber. In d. Elektr[ischen] traf ich Hans, der von
seinem Vortrag (Arbeiterorgan[isation]) nachhause fuhr ; ich hatte mir die Stunde
genau und erfolgreich berechnet. Dem Hans gefällt die Lithogr[aphie], die ihn an
Dürers Fürlegerin erinnert, sehr gut. Heut früh lag der Schnee draußen (1½° über
0°), und das am 12. April. Hans packte, da er in St. Pölten (Uraniavortrag, Moderne
Kunst) übernachtet.71
13.IV.1924
Das Preisausschreiben, das ich gestern beschickte, ist wieder eine totgeborne Sache.
Erstens ist der Termin für die Einsend[ung] der Noveletten, in die es dem Umfang
nach gehört, abgelaufen ; 2. ist die Adresse, der ich schrieb unrichtig gewesen, drittens
das M[anu]s[kript] ungeheftet. Also wieder nichts. Gestern fuhr ich erst am Nach-
mittag hinein, war am Morgen mit Stoffel, der für Minkas Stammbuch eine Kompo-
sition „einübte“. Anderl hat Stoffel famos gezeichnet. Nachzutragen eine Radierung,
die G. E. von mir machte, stehend (Halbfig[ur]), ein wenig in der Art der „antiken“
Zeichnung, die das Gewand hält (der einfacheren Gestaltung zuliebe war dieses mein
rotes Tuch). Der arme Mensch ist Neurastheniker, wodurch viel in seiner Kunst klar
wird. Die ihn befreien könnte, wird es nicht tun wollen. Ich muß an OK’s Zeichnung
„Das ist nicht wahr“ und Alma denken. Ilse ist sehr verschnupft, lag als ich sie be-
suchte. Ich habe, um ihr u. Mama Freude zu machen, viel von Almas lustigen Haus-
* Gehilfe
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien