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Tagebuch 1924
ren Clemen, Blaschitz und Brockhausen da, post coenam beim Heurigen, spät zu
Bett. Heute nachmittag war Tischler (mit Frau) hier, er hat die ersten Lithos seiner
Reinhardtmappe mitgebracht, sie sind, weiß Gott, gleichgültig. Er ist verzweifelt über
die 15 Porträts, die er da herstellen muß, noch verzweifelter über die schreckliche fi-
nanzielle Lage ; während sie noch da waren, kam Philippi, der direkt selbstmörderisch
ausschaut und sich in seinem Elend wie ein Irrsinniger gebärdet. Aber was sollen wir
tun ; wir können ihm nicht helfen.
–99
Am Vormittag war Felix da, er reist morgen mit einem Kinderzug nach Italien. Ich
hab ihm die beiden letzten Gedichte vorgelesen, die er in Form u. Inhalt weiter ent-
wickelt findet. Vom persönl[ichen] Erlebnis zur Weltanschauung.100
18.VI.
Von Georg ein langer Brief, er ist froh, eingesponnen in Arbeit u. Einsamkeit u.
glücklich ein Atelier (neben der Pension) benützen zu dürfen. Clemen ist noch im-
mer da, er stört uns aber nicht weiter. Am Montag abend waren wir mit ihm bei
Laske, der richtig orientierende (im besten Sinn) Landschaftsaquarelle aus Dalma-
tien mitgebracht hat. Gestern war ich beim Direktor vom Anderl, hab gebeten, daß
die Kinder schon am 1. aus der Schule dürfen u. hab die Vroni angemeldet. Er sagte
mir über den Anderl : „Wissen Sie, der Bub ist ein untadeliger Mensch. Seine Klasse
ist wirklich moralischer Tiefstand. Er schaut nicht links u. schaut nicht rechts, geht
unbeirrt seinen Weg.“ Pepi Berger hat die Malerin Grete Hammerschlag geheiratet.
Es scheint für alle überraschend gewesen zu sein, Lampls gehen an den Molvenosee,
das ist zwischen Bozen u. Riva u. wollen, daß G. E. hinaufkommt, da es ja unten mit
der Zeit zu heiß wird. Ich habe G. E. Geld geschickt, bez[iehungsweise] es angebahnt,
so daß er etwa bis 10. Juli unten bleiben kann. Damit hab ich ihm aber so viel vor-
gestreckt, daß seine Julirente aus der er mir’s zurückzahlt, fast erschöpft ist. Und das
Eintreiben d. Geldes ist sehr schwer.101
23.VI.
Die Tage gehen mir bei der Arbeit schnell u. mit gedämpfter Freudigkeit vorüber.
Am 19. ist Clemen, der mehr als eine Woche bei uns war u. ein wirklich vornehmer
Mensch ist, weggefahren. Meinen Geburtstag hab ich erst am 22. gefeiert, weil das
der Sonntag war und zum 20. nur einen Brief von Georg bekommen, dessen eine
Seite mit einem sehr lieben Selbstporträt (Bleistift) gefüllt war. Stoffel hat’s mir unter
Glas gerahmt. Den Samstag hab ich in der Stadt zubringen müssen, tausend Wege
u. a. die (schwache) Ausstellung der Grete Hammerschlag-Berger. Gestern d. Tin-
toretto im Groben fertig gemacht u. Hans vorgelesen, der ihn „ausgezeichnet“ fand,
worüber ich mich vom ganzen Herzen freute. Zum Geburtstag bekommen : Zeich-
nungen von Joh[annes] Fischer (Orska ? schlecht), Helbing, Eberz, Coubine u. ein
Aquarell von Le Fauconnier
– vom Stoffel einen Federstiel, da ich meinen dem G. E.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien