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Tagebuch 1924
Früchtestilleben gemalt (in bunten Stiften). Wirklich gut. Heut abends hätt’ ein Japa-
ner kommen sollen, Kunsthistoriker, Universitätsprofessor.
–122
5.IX.
Kam auch aber verspätet ; war ganz interessant u. doch ein trauriger Gedanke, wie
unsre uns gelegentlich schon etwas unnötig vorkommende Wissenschaft auch die
Leute, die es doch gar nicht einmal angeht, ankränkelt. Der schwer u. langsam u.
gleichförmig sprechende Mann hat uns unsagbar schläfrig gemacht.
9.IX.1924
Am 6. hab ich zu schreiben begonnen ; abends mit Hans im Schönbrunner Schloß-
theater – wußten beide nicht, was gegeben würde u. ließen uns im Theater erst über-
raschen. „Unsere kleine Frau“ von ? – Ganz banal, stellenweise zum Lachen, mäßig
gespielt. Wir wollten den Abend zerstreut haben u. in d. Nähe des Westbahnhofes,
wo wir um ½ 11 Dr. Knuttel aus d. Haag abholten, der d. holländischen Bilder für
d. Internationale nach Wien brachte u. hier auch einen Vortrag (13.) halten soll. Er
wohnt bei uns, hat gar keine kunsthistorische Interessen, dafür lästiges Anschlußbe-
dürfnis. Am Samstag hab ich tagsüber geschrieben u. war abends mit Hans in d. Zau-
berflöte. Ein (mir unbekannter) alle Tempi verschleppender Dirigent, die Aufführung
viel zu sehr im Geist der Goetheschen Iphigenie statt des 18. Jhs. Sonntag wieder
geschrieben, am Abend ein Weilchen nur mit Hans spazieren. Montag (Feiertag) war
Hans mit Knuttel u. Anderl in Rekawinkel bei Dr. Junk – ich zuhause, hab geschrie-
ben – bis gegen Abend. Dann mit Floch zusammen u. s. w. Es war schön – aber die
Luft war schwer. Heut wieder geschrieben – jetzt am Nachmittag halt ich vor dem
letzten Absatz : Callot. Den will ich noch erledigen. Dann Nachträge – im Übrigen
fängt ja morgen die Ausstellunggeherei an, Vernissage in d. Internationalen – oder
wird die nur „eröffnet“ ?123
11.IX.1924
Gestern hab ich früh mit dem Floch einen Graphikkasten um den lächerlichen Preis
von 250.000 K[ronen] gekauft. Im ehemal[igen] Arbeitsminist[erium], mir bei dieser
Gelegenheit G. E. Atelier angeschaut. Nachmittag bei d. Vernissage der Internatio-
nalen, sehr interessant und ermüdend. Heute Eröffnung, Hans hat den Bürgermeis-
ter Seitz geführt ; gestern im Abendblatt (Tagblatt) ist mein Artikel „Über die neue
Instrumentierung von Kunstwerken“ erschienen. In d. Ausstellung alle Menschen
gekannt, gesprochen, todmüde. In den Gärten noch das Laub ganz dicht, Regen der
nicht durchdringt
– aber man hört ihn ; schön, schön
– mir ist warm und traurig ums
Herz. Mittag bei Halles, nachher Mama, „Lokalchronik“ angehört, Kern pleite, die
alte Door aus dem Steinhof in die Freiheit entlassen, zieht zur Tochter, die sich schei-
den ließ. Auch Franzl Stern läßt sich scheiden, die Frau von Rich[ard] Peter Baum-
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien