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Tagebuch 1924
Kirchenrundgang, darunter St. Sauveur mit d. prachtvollen Triptychon von Nicol[as]
Froment. Keine Spur nirgends u. nirgends von Cézannes. Was ist doch dieses Frank-
reich für ein konservatives Land ! ! ! Bonbons für d. Kinder d. Steinermädchen gekauft
(Specialités), in Marseille dann noch andre Sachen u. für mich ein Parfum, das schon
durch d. Stöpsel gut durchriecht. Morgen geht es nach Menton.136
13.X.
Am Samstag haben wir noch in d. Früh eine Autofahrt durch die Corniche gemacht
u. sind dann mit vielen singenden Matrosen nach Menton gereist. In Nizza mußte
alles umsteigen, aber es war niemand da, der einen darauf aufmerksam gemacht hätte,
überhaupt ein unmöglicher Bahnhof mit einem passage souterrain so schmal, daß
kaum ein einzelner durchkam. In Menton gaben wir unser Gepäck am Bahnhof [ab],
um bequem Unterkunft suchen zu können, ließen uns aber gleich hinterher von dem
ersten Portier, der uns sein Haus (St. James Hôtel) anpries, kapern u. fuhren mit ihm
nach Garavan hinaus. Wundervolle Lage, das vorletzte Haus, unser Zimmer eigent-
lich im Aussichtsturm, dessen Wände in 8 Fenster (statt d. neunten die Türe) aufge-
löst sind. An drei Seiten sieht man d. Meer, l[inks] das italienische, Mitte u. rechts
d. französische. Es rauscht – direkt an d. […]. Es rauscht fast zu stark – wir schlafen
dünn. Vollmond. Einziger Nachteil 2 Stock hohe Wendeltreppe u. daß das eau cou-
rante nicht bis herauf coure
…
Aber das ist nichts im Vergleich zu d. Vorteilen. Es ist hier ein gottgesegne-
tes Land u. wir haben dazu ein gottgesegnetes Wetter. Dünnste Sommerkleidung,
Abende u. Nächte angenehm abgekühlt. Am Sonntag endlich Haare gewaschen, ein
Stündchen in d. Sonne getrocknet u. absolut nichts dabei gedacht. Dann Spaziergang
in d. obere Stadt. Nachmittag nach dem Cap Martin mit dem einzig schönen Wald.
Denkmal Kaiserin Elisabeth – Erinnerungen. Heute die grande Corniche (nach d.
Baedeker die schönste Straße der Welt) nach La Turbie zufuß gegangen. Gegen 8
schon weg, darum die ganzen c. 3 Stunden nur ein Dutzend Autos begegnet, die
kaum Staub gemacht haben. Es war herrlich. Nach dem Dejeuner mit d. Funiculaire
nach Montecarlo das – ein größeres Gastein – d. Gipfel der Geschmacklosigkeit ist.
Kurmusik (Kaffee getrunken), Geschäfte angeschaut, die sich aber nicht im entfern-
testen mit unseren vergleichen lassen. Alles Vorsaisonmäßiges. Mit d. Tram zurück.
Morgen geht es am Nachmittag nach Genua
– erste Rückreisestation !137
19.X.
Zuhause seit d. 17. abends. In Genua haben wir in einem vor kurzem erst eröffneten
Hôtel über Treppen hinauf Via Balti übernachtet u. am Morgen ein paar Kirchen u.
Palazzi angeschaut u. eine herrliche Hafenbootfahrt gemacht. Ein Schiff nach Egyp-
ten fuhr aus, Baggermaschinen, Kräne, blauer Himmel, warm. Nachmittag nach Tri-
ent. Von dort am nächsten Vormittag über den Brenner (ach ein so blauer Herbst)
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien