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Tagebuch 1924
Am Freitag nachmittag war ich bei G. E. im Atelier und hab die Bilder u. Zeichnun-
gen gesehen, die er in meiner Abwesenheit gemacht hat. Er war sehr fleißig u. hat
sehr gut gearbeitet. Am besten gefiel mir ein Halbakt, wundervolle Farbenökono-
mie, groß erfunden u. doch das ganz Gefühl drinnen. Und im Bild Jüngling u. Mäd-
chen ; das Mädchen ganz eindringlich, der Jüngling leider noch in einer Art Pierrot-
anzug, dadurch unnötige Pierrotlunaireromantik assoziierend. Abends bei Lampls,
ich hab ihm meinen Tobias für die Schauspielergemeinschaft gebracht – erhoff mir
aber nichts davon. G. E. war wegen einer ganzen Reihe von Geschehnissen (Kritiken,
Übergehungen etc.) sehr verstimmt, ist aber alles los geworden. Gestern war Vor-
besichtigung im Hagenbund, sehr guter Durchschnitt. Nachmittag bei Tischler, der
mich teleph[onisch] bestellt hatte. Lernte dort Liebstöckl u. d. Schauspielerin Servaes
kennen, die Tischler, herrlich unähnlich, porträtierte. Abends war der Präsidialist Dr.
Hohenauer da, ein ehrbarer ernster Jüngling aus Tirol, an dem nichts auffälliger ist,
als daß er schon 30 Jahre alt ist
– ich hätt ihn für 17 gehalten. Er interessiert sich für
moderne Kunst (ein seltener Fall) u. wir haben unsre Blätter – auch für uns ein sel-
tener Genuß – durchgeschaut. Heute ist windiges trübes Wetter. Ich hab zwei Noti-
zen (Bilderattentate, Hagenbund) nach München geschickt und meinen graphischen
Vortrag (moderne Wiener) für den 4. Dezember fixiert. Hans hält seinen über die
Malerei eine Woche vorher. Unser Telephon geht nicht u. ich fürchte, wir werden in d.
Walfischgasse fahren müssen, der Ilse adieu sagen
…
Anmerkungen
1 Baronin Oppenheim – gemeint war vermutlich Baronin Marie von Oppenheimer.
Die Aufführung von Franz Grillparzers „Jüdin von Toledo“ (Uraufführung Prag 1872) mit
Alexander Moissi und Maria Orska fand im (Deutschen) Volkstheater statt.
2 Heinz – Cousin Heinrich-Lutz Fraenkel aus Breslau.
Therese – Haushälterin Therese Kurzweil.
3 Sicherlich bemühte sich HT beim Ehepaar Oskar (TB 1923, 2.7.) und Bertha Taussig (TB
1924, 2.4.) um Unterstützung für diverse Künstler.
Mit „Ausstellung Flechtheim“ ist die Ausstellung deutscher Kleinplastik im Theseus-
Tempel gemeint (siehe TB 1923, 28.12.). Dank der Zusammenarbeit von Flechtheim und
Würthle wurden zahlreiche Künstler aus dem Umfeld der Galerie Flechtheim nach Wien
gebracht. Die hier erwähnte Ausstellung war eine gemeinsame Veranstaltung mit HTs Ge-
sellschaft zur Förderung moderner Kunst in Wien (GFMK). Zu sehen waren u. a. Arbeiten
von Ernst Barlach, Kurt Edzard (1890–1972), Ernesto de Fiori, August Gaul (1869–1921),
Hermann Haller und Renée Sintenis (1888–1965). Zur Kooperation Würthle-Flechtheim
siehe Bichler 1995 ; Schweiger 1995.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien