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Tagebuch 1925
schaft sprechen. Er soll schon furchtbar klapprig sein, aber wie er dem Hans von
einem Herrn erzählte, der oft mit ihm über dasselbe Thema zu sprechen hat und da-
bei jedesmal „nach ihrem werten Ableben“ sagt, da hatte er doch seinen unbändigen
Spaß, wie er es erzählte.
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Samstag mit Dessoir und Frau, einem englischen Professor, Frau Prof. Dvořak und
ihrem trojanischen Roß in dem Medardus gewesen, diesem allerschlechtesten Stück,
das existiert. Wir sind lange, aber nicht bis zum Schluß geblieben. Wir waren in
der Loge des Bundespräsidenten (Incognitologe), die neben andern Bequemlichkei-
ten (Salons, Garderobe) auch ein WC hat, das allein schon besichtigenswert ist : ein
großes schön erleuchtetes Kabinett ; an der einen Wand hängt ein leerer „Grazer“,
in einer Ecke steht ein weiß gestrichener Blumenständer und darauf ein Porzellan-
nachttopf mit Goldrand – das ist die Gesamteinrichtung. Am Sonntag waren wir
vormittag beim Tischler, haben uns seine Sommerernte angeschaut – und nachher
überlegt, wo diese Massenproduktion von eigentlich unnötigen Bildern enden wird.
Wir haben uns für Prag entschieden. Mittag war Felix da u. nachmittag mit uns auf
dem Kahlenberg. Wir sprachen u. a. über die Sozialdemokraten (Beamten) in Christ-
lichen Ministerien (und umgekehrt), wie gut sie es hätten, wie jeder ausgesprochene
Parteigänger sich durchsetze etc. Nur die „Lauen“, die gar keiner Partei angehören,
die haben es schlecht ; „Nicht ernannt soll er werden !“ sagte Hans
…37
Hans schrieb das Vorwort für sein Essaybuch ; es hat mich tief erschüttert ; dieser
Rückblick auf zwölf versäumte Jahre ; und auch daraus holt er eine wehmütige Resi-
gnation heraus
…38
15.IX.
Letzten Mittwoch (9.) erst bei den „Schwestern Berger“ (Hilde Lampl), wo ich eine
Toilette bekomme. Probieren konnte ich nichts, weil ich nicht mit dem Kopf hinein-
kann (!). Dann Tante Anna, furchtbar ist dieses Handzittern vom Onkel Max. Atelier
G. E., die Sommerernte mit starker Anteilnahme gesehen. Abends (ohne G. E.) bei
Lampls wo unter 14 andern Leuten auch Ehrenstein u. Schramek waren … Ich hab
mit niemandem reden können, so viel Menschen herum.39
Freitag (11.) sind die Kinder gekommen. Sie sind sehr abgebrannt u. vergnügt.
Vroni mit „Bubikopf“ stark verändert (in meinen Augen zum Nachteil). Anderl wun-
dervoll in seiner künstlerisch genießenden Beschaulichkeit
…
Meinen Roman hab ich zuende umgearbeitet und Hans hat ihn am Donners-
tag (während ich mit Gaby bei Don Gil von d. grünen Hosen war) gelesen. Er hat
ihm gut gefallen und das hat mich unerhört arbeitsfreudig und lebendig gemacht.
Seither lebe ich schon in einem neuen Roman drin … Habe wieder den Mut u. die
Rücksichtslosigkeit, keine Kunstgeschichte – (außer für den Broterwerb) zu treiben.
Am Freitag war Hans mit mir in der „Toten Stadt“, ein außerordentlich aufregen-
der dramatischer Abend (Jeritza). Frau Granichstädten, Wilhelms etc., die wir dort
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien