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Tagebuch 1926
Schiff, das hinter einem kolossalen anderen davor unansehnlicher aussah als es ist.
Über die Strickleiter an Bord. Die barca verlangte 30 L[ire], hatte Anspruch auf 4
und war zufrieden mit 10. An Bord der Kapitän, (Stewart auf dem Land), die Kabine
eilig hergerichtet, primitiv, aber ausreichend. Auf Deck noch lange auf zwei Streck-
stühlen gelegen, der Hafen, ein prachtvolles Kreissegment in das der Himmel seinen
Überfluß an Sternen geworfen hatte, überdies noch Feuerwerk um eine Kirche in der
Höhe. Das Wasser wie ein Spiegel. Wir gingen zu Bett, merkten kaum, als wir gegen
Mitternacht ausfuhren und erwachten erst früh, als wir bei Porto S. Maurizio (jetzt
Imperia) ankamen.3
(18.) [April]
Wir lernten unsre Reisegefährtin kennen
– die einzige Passagierin auf dem Frachtdamp-
fer – eine sehr alte Dame, Organ u. Tonfall vom alten Fischer, die Witwe nach einem
Beamten (Direktor ?) d. Länderbank in Wien. Sie wollte die Schiffsreise Genua–Valen-
cia u. wieder zurück machen, um zu erproben, ob sie sich denn noch so etwas zutrauen
dürfe. „Was soll denn passieren ? Höchstens daß man seekrank wird.“ Und auch dagegen
hielt sie sich durch Motherthill für geschützt. Wir gingen in Porto S. Maurizio spazie-
ren ; die steile Küste hinauf durch Gartenterrassen mit Agaven, Palmen und blühenden
Rosenhecken zur Altstadt, die nur durch reizvoll geführte Gassen nicht durch Einzelge-
bäude sich auszeichnet. Der Himmel war tiefblau, doch ein eisiger Wind ließ die Sonne
nur an ganz geschützten Winkeln zur Wirkung kommen. Sonntagvormittag : Mädchen
in Kommunionsschleier gehüllt um ein vorgetragenes Kreuz sich drängend – Kinder
in weißen Schulschürzen auf einem […]platz – Reigen tanzend. Zu Mittag auf dem
Schiff ; der Kapitän verschiebt die Abfahrt, weil der Mistral (er spricht Maëstral) zu
stark weht. Wir legen uns auf unsere Streckstühle, aber wie wir ausfahren ist es kaum
oben auszuhalten, so tobt der Sturm. Hans geht hinunter und ich bleibe noch über mei-
nen Mantel u. Plaid auch in seinen schweren gewickelt. Gegen fünf kommt Hans herauf.
„Wie geht es dir ?“ „Mäßig“, sagt er u. sieht verfallen und entgegenkommend aus. „Schon
gespieben ?“ frag ich weiter. „Nein, aber nur eine Frage der Zeit.“ Er kam dann noch die
Stiege vom Deck hinunter. Das weitere hörte ich nur mehr
…4
Ich blieb oben und fror. Aber es war schließlich doch zu kalt u. ich ging hinunter
in den sicheren Tod. Hans ging um sechs zu Bett. Mir war so elend zu mut, daß ich
vom Sofa in der Kabine nicht aufstehen konnte, um mich niederzulegen. Hans legte
seine Hand auf meine, da wurde es mir mit einem mal ganz leicht im Kopf, schnell
streifte ich die Kleider herunter und war mit einem Satz oben in meinem Bett. Wir
schliefen tief und erquickend bis zum Morgen.
19.IV.
Man sieht das Chateau d’If und die Felsen der Küste, die kalt und zermugelt aus-
schauen. Das Meer ist ruhiger, der Himmel verhangen, als ob es regnen wollte. Die
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien