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Tagebuch 1926
hobene Karthause, deren Sakristei wie eine Tropfsteinhöhle aussieht. Am Weg hin
viele Kirchen, mir ist nicht viel davon hängen geblieben, hier ein glitzerndes Roko-
kosanktuar, dort eine charakteristische Holzdecke. Die Hauptsache bleibt nicht das
Gebäude sondern der Platz wo es hingestellt ist und wieder nicht der Platz, sondern
die Aussicht, die er gewährt. Die Sierra Nevada, großzügiges Hochplateau und die
bezaubernd durchgrünte Stadt
…27
Kinder u. Große, die auf den Fremden dressiert sind, sieht man – im übrigen
Spanien haben sie gefehlt. Zigeuner mit ihren stei-
len Hüten und dem intimen Getu, das sie gegen den
Fremden zur Schau tragen. In den Felsen wohnen sie
in Löchern, in Höhlen : die Holzverschalung, die die
Eingänge deckt, ist bisweilen sogar weiß oder gelb
gestrichen – wir haben Dutzende dieser Höhlen-
wohnungen von der Bahn aus in der Nähe der großen
Orte gesehen.
–28
Das Wetter ist trostlos. Schwere Wolken jagen am
Himmel, tagsüber hat es nicht geregnet, war aber kalt,
daß wir schon ganz verzweifelt waren, bis uns ein
Sonnenstrahl wieder hoffen ließ
– jetzt um 9h abends
(ich sitze im „Salon“, man speist hier so spät …)
regnet’s.
4.V.1926.
Sevilla. Seit gestern Abend sind wir hier – endlich
warm. Der 2. Mai, der Sonntag in Granada, war der
Höhepunkt des schlechten Wetters ; Kälte, Regen.
Wenn zwischendurch einmal ein trockener Augen-
blick war und sogar die Wolken sich teilten wie tief-
schwarze bis ins […] belichtete Wolkenwogen aus-
einanderzogen und die weißen Zacken der Sierra Nevada frei ließen, hat es mich
wunderbar entschädigt … aber nicht den armen Hans, der wahre Wutanfälle, Selbst-
u. Weltanklagen gegen das Wetter ausstieß. Am Vormittag waren wir auf der Al-
hambra oben. Ich muß alle Vernunft zuhilfe nehmen, um über das einer ästhetischen
Einstellung Entgegengerichtete dieses Stils hinwegzukommen. Bewunderungswür-
dig, aber in dem jetzigen Zustand zu ausgeleert um lebendig – zu komplett um stim-
mungsvoll zu wirken. Vor allem : zu viel „Motiv“. Ich meine, daß der Eindruck bei
blauem Himmel wohl anders – aber nicht besser geworden wäre. Hinreißend der
Park. Wie ein toll gewordener Wiener Wald, ja, unsere Bäume, aber urwäldlich ver-
dichtet, von Schlingpflanzen unten der Boden, von wucherndem Laub ob der Him-
mel verwachsen
…29 Abb. 77 : Mittelalterlicher Judenhut.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien