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Tagebuch 1926
wieder im Kino, aber sentimentaler Schund). Heut vormittags unsere letzte Zeit in
dieser verführerischen Stadt, der das Grün von den Dachgärten über den strahlend
reinen Fassaden herunterhängt. Die alten Frauen sogar mit Blumen seitlich im Kno-
ten, die Esel u. Mulis mit den verschiedentlichen Aufbauten, darin die Ware, die ihre
Treiber führen
– am köstlichsten die verhangenen Koffer der Bäcker
–
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Wir sind durch die Altstadt gegangen quer durch den Markt, da sieht man am
meisten. Bis hinaus ans Ende der Stadt, wo man hinter den palmenbestandenen
Höfen die gebröckelte Stadtmauer sieht. Dort liegt S. Paula mit den wundervollen
Azulejos, von denen man weiß, die einen hat ein Hiesiger, die anderen ein Pisaner
gemacht
– so ist die Terracotta Kunst hier und dort die gleiche. Dann wieder im Mu-
seum, um die Eindrücke festzulegen
…38
Unsre „Equipage“ (die 2 größeren Koffer) bleiben mit den Mänteln im Hôtel, wir
wollen leicht beschwingt nach Cadiz reisen
…
8.V.
Die Fahrt war Anfangs nicht sehr angenehm. Doch heiß, Saisonarbeiter nach Jerez,
überfüllte Coupés, lautes raues Geschwätz, heulende Säuglinge. Nach Jerez wurde
es besser. Die Sonne war auch schon tief und vom nahen Meer kam doch ein Lüft-
chen. Wir waren zuerst durch baumloses Wiesenland gefahren. Herden (Stiere oder
Kleintiere), die Hirten und was man sonst in der unendlichen Ebene sah. Alles im
Sattel. Um Jerez dann Wein-acker, denn man kann nicht zu dieser Flachlandpflan-
zung Weinberg sagen. Das letzte Stück Salzsümpfe ; die Salzablagerung in Gestalt
von weißen Pyramiden über dem braunen Morast. Bei Puerto Santa Maria sieht man
schon gegenüber im Meer Cádiz ; aber die Bahn braucht noch lange bis sie das Ziel
erreicht, denn der Damm der die Insel mit dem Festland verbindet, macht einen
Bogen. Endlich sind wir dort – gerade nachdem die Sonne ins Meer gesunken – das
liegt zu beiden Seiten von der Bahn draußen und – auch noch vor uns, wie wir uns
bei der Einfahrt in die Bahnhofhalle überzeugen. Ja hier ist Europa zuende. Zum
erstenmal seh’ ich das Meer, das offen nach Amerika liegt und offen auch um das
westliche Afrika. Wir schicken unsre Handtaschen mit d. Hôtelomnibus (Roma) und
gehen zufuß durch die Stadt. Sie ist eigenartig ; hohe Häuser (wegen des begrenzten
Terrains wächst die Stadt in die Höhe) und alle weiß oder crème lackiert, gelegentlich
ein rosa oder hellgrünes Untergeschoß die darüber doch wieder weiß. Und bis hin-
auf in allen Stockwerken die verglasten großen Balkone. Die Leute sehen städtischer,
eleganter, internationaler aus als sonst in Andalusien. Das Hôtel ist aus seiner Baede-
keradresse ausgezogen, sodaß wir reichlich Zeit zu diesem ersten Spaziergang haben.
Erst nach 9 Uhr kommen wir hin und bekommen das schönste Zimmer mit so vielen
und bequemen Möbeln, warmen und kaltem Wasser im Zimmer – kurz allem was
man sich für 12,50 P[eseten] träumen kann. Heut früh haben wir den ersten ganz
starken Eindruck von Greco hier gehabt ; in einer Kirche, die zu einem duftig weißen
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien