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Tagebuch 1926
20.V.
Wir haben noch einen schönen, einen wundervollen Abend gehabt. Wir waren am
Jahrmarkt des hl. Isidor, der an dem Ufer des Manzanares, wo die Wäscherinnen
gerade die trockenen Wäschestücke von den Stricken nahmen, gefeiert wird. Das
Volkstreiben, das der Baedeker versprach, war nicht sehr toll, ein ganz kleiner Wurs-
telprater am Dorf. Lästig nur die bunten flittrigen Zigeunerinnen, die einen so ener-
gisch am Arm packen, und die „Fortuna“ sagen wollen. Auf einem vorgeschobenen
Alkoven, der weit ins Freie stand, – alles herum versunken – tanzten zwei Paare zu
Werkelmusik, mit den hinaufgehobenen Händen machten sie die Castagnetten nach.
Dahinter weit das tief eingeschnittene Tal mit der grauen Barockbrücke
…51
Und am nächsten Morgen fuhren wir bei blauestem Himmel u. milder Wärme
nach Toledo. Dieser Tag gestern war vielleicht der schönste, den wir bisher hatten.
Die Stadt ist nicht nur reich an Geschichte, nein auch an den erhaltenen Schätzen,
die diese Geschichte belegen. Die Stadt ist aber auch bis in den letzten Steig, den
kleinsten Stein selbst ein überzeugender Beweis ihres historischen Schicksals. Der
Tajo fließt im tief eingeschnittenen Bett an drei Seiten herum ; der Hügel, den er
umschließt, trägt den Steinhelm der Häuser mit der Kathedrale als Bekrönung. […]
wachsen u. sinken, dem Terrain u. seiner Fortifikation entsprechend die Mauern, und
diese stützen die Türme, schließen die Stadttore auf. Am schönsten sind aber die
Brücken, die den Sinn der Befestigung über den Fluß ins Land tragen, durch das der
Tajo – mit einem mal gelinder zwischen birkenbestandenen wiesigen Ufern fließt.
Auf seinem Schluchtweg aber um die Stadt waren Stromstellen u. an jeder wie Wäch-
ter an beiden Ufern graue große Mühlen gelagert
…
Wir haben erst ein sehr dichtes kunsthistorisches Programm abgewickelt und sind
dann hinaus aus der Stadt, hinunter auf einen der Hügel, wo das Klösterlein Nuestra
Senora de la Cavezza steht und haben von dort aus gegen die Flußschlucht einerseits
und gegen die Stadt andererseits geschaut. Dann haben wir uns getrennt, Hans ist
um die Stadt herum und ich bin auch vor der Stadt geblieben, bis die Sonne unter-
gegangen ist. Es war ein wundervoller Abend, den ich nie vergessen werde. Aber am
nächsten Morgen war das Wetter mäßig, am Vormittag noch schlechter, zumittag
hat es gegossen bis gegen 5 Uhr, daß die Sturzbäche nur so über das katzenköpfige
Pflaster geflossen sind. Wir waren furchtbar deprimiert und haben uns in die kunst-
geschichtliche Seite der Sehenswürdigkeiten verbissen ; vor allem ist mir da ein Bild
von Goya, Christi Gefangennahme in Erinnerung geblieben, das unerhört frei und
groß dem Stoff gegenüber steht. El Greco, dessen Stadt ja Toledo ist, hat hier den
imponierenden Conde Orgaz, der sehr innig das Mysterium auffaßt, sehr repräsen-
tativ die anwesenden Cavalleros in ein „Gruppenbild“ schließt, aber schließlich doch
keine Einheit gibt. Es scheint, daß das breitere Format ihn daran hinderte ; bei den
späteren bleibt er bei dem ganz schmalen Hochformat, in dem seine flammenden
Gestalten so erfolgreich hinauflecken können. Im Museo del Greco weiß man bei
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien