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Tagebuch 1926
S.
Pablo u. S. Isidoro (Universität). Wirklich gut ist das Skulpturenmuseum (d. h. das
Museum überhaupt, aber die Bilder spielen keine Rolle). Dort gibt es vor allem Holz-
figuren von Berruguete, diesem Greco der Skulptur und von Juan de Juni, der 1530
auftauchte u. um 70 stirbt, vielleicht von Frankreich kommt oder sonst woher u. als
letzte Blüte der Spätgotik das ganze dicke temperamentvolle Barock des 17. Jhs vor-
wegnimmt. Von einer überlebensgroßen Beweinung Christi wirkt der Leichnam mit
dem ablehnenden edlen Kopf und den totengrün gewordenen übergroßen Händen
und die Gruppe Johannes u. Maria wie von Grünewald
…58
Nachmittag sind wir hierher nach León gereist. Heiß, Rapido, übervoll, städtisches
Publikum, wenig angenehm. Ein kurzer Gewitterregen hat dann die Stimmung ge-
bessert. León baut sich gerade neu ; es ist ein absolut geistloser und provinzlerisch
anspruchsvoller Stil, mit dem es seine wiedergewonnene Lebendigkeit dokumentie-
ren will. Die Kathedrale ist der französischste Bau, den man sich denken kann. Im
Inneren wundervoll in den Dimensionen, mit kostbarem Detail. Wir haben das glü-
hendflammende Tagesende zu einem kurzen Besuch nur, zu einer Kostprobe benützt.
Ebenso S. Isidoro, das wunderbar goldgelb, ein wenig abgerückt von der Neubauerei,
die intime Pflege von acht Jahrhunderten aufweist. Der Westseite ist das sog[enannte]
Pantheon angebaut, Pantheon de los reyes (Königsgräber) mit seinen Fresken aus
dem 12. Jh. Der erste Eindruck war sehr sehr stark ; ein einheitlicher Bau, der seine
alte Bestimmung nach so vielen Jahrhunderten noch zur Schau trägt. Aber das Licht
war vorbei, wir müssen morgen die Einzelheiten sehen. Hasta la mañana !59
28.V.
Und haben am nächsten Morgen den flüchtigen Rundgang vom Abend wieder auf-
genommen und mit starkem kunsthistorischen Genuß die beiden Kirchen u. das Mu-
seum in S. Marco draußen besucht. Hier machen die Korrekturen u. Ergänzungen,
die wir bei dieser Gelegenheit immer an d. Baedeker vornehmen, viel Spaß. Hans
sagte die Kunst von León charakterisierend : „… schließlich ist uns eine Figur aus
dem 13. doch lieber als der ganze platereske Schwindel.“ Und dann : „… diese ganzen
südlichen Kathedralen sind ja doch nur Kunstgewerbe.“ Es ist merkwürdig, wie un-
angenehm uns dieser das Fremde am empfänglichsten aufnehmende Stil des 16. Jhs
wird
…60
Gegen halb fünf fuhren wir erst noch durch die Ebene, dann durch eine immer
alpiner und abwechslungsreichere Gebirgslandschaft ; die Trace steigt erst bis 1000 m
und fällt dann in Kurven und Tunnels bis etwa 400 m hinunter ; einmal durchquert
die Bahn einen Berg 93 m unter dem Tunnel, durch das sie ihn ein halbes Stünd-
chen vorher durchquerte und ganz oben links sieht man das Stationsgebäude, das erst
rechts unter uns lag. Kurz nach Sonnenuntergang war die Luft so duftig, die Töne
so leicht und zart, man glaubte die rätselhafte Farbenskala von Cézanne zu sehen.
Als es draußen finster war, wurde es im Coupé lebendig : Burschen u. Mädel sangen,
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien