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Tagebuch 1926
len die Fratzen, an der einen Seite Vogelfratzen, an der anderen Löwenfratzen, beide
zu Teufelsköpfen umgebildet und endlich in der Mitte des Portals unter der Kirche
innen schon zugekehrt das Bildnis des […] Meisters – Matthäus – der in 20 Jahren
d. Werk vollbracht hat und es jetzt kniend dem Himmel darbringt, die Hand an der
Brust klopft das Pater peccavi
…61
Am Abend gestern fuhren wir nach Pontevedra, das uns d. Baedeker so angeprie-
sen hatte, daß wir uns einen ausruhenden Sonntag villeggiatura davon versprachen.
Es war eine Niete – aber wir lernten so wenigstens ein echt spanisches Gasthaus
kennen mit dem unerfreulichen Duft u. der Gleichgültigkeit des Personals, die da-
zugehören. Ich schreib jetzt am Bahnhof in Pontevedra, aus dem wir fliehen – nach
Vigo (Die Frauen tragen hier einen Zopf ganz frei am Rücken hängen).
31.V.1926
Die Fahrt nach Vigo war einzig schön ; Bucht um Bucht am Meer umfahren u. das
köstliche Münden der Flüsse erlebt, ach so stark erlebt
…
Jeder Fleck ist mit Weinlauben bepflanzt, deren Laub eine dichte Decke bildet.
Die Lauben sind unregelmäßig, wie es das Terrain verlangt, es ist, als ob sie die Berge
modellierten. In Vigo haben wir den Photogr[aphen] aufgesucht u. Photos von Santi-
ago ausgesucht. Und dann den reizenden schmucken Hafenort, der in wunderheiterer
Lage die große Bucht umspannt. Ein verrückter Herr neben mir im Park, während
Hans Wegzehrung kaufte, die Apotheose des Todes in endlosen Selbstgesprächen, „a
[mi] me gusta la muerte drum bin ich für die schwarzen Strümpfe“ war der Schluss-
effekt. Nach langem Schwanken, bei dem das schwüle bewölkte Wetter schließlich
den Ausschlag gab, dann doch nach zwei Uhr nach León gefahren. Wir hatten erst
Regen, dann vollkommen klaren Mondschein auf dieser Fahrt, die vom Meere über
800 m hinaufsteigt. Eine prachtvolle Fahrt, stundenlang am rechten Ufer des Miño,
der hier die Grenze nach Portugal bildet ; wir sahen weit hinein in das gebirgige Land.
Die Ufer des Flusses sind außerordentlich gepflegt, wie ein Garten bepflanzt, wer das
wohl besorgt
– geistige Hände
– nie sieht man einen Menschen, fast nie ein Haus
…
Um 1 Uhr nachts waren wir in León ; wir liefen so schnell zur Stadt, dass uns der
Mann von der Verzehrungssteuer nachstürzte, da er uns für Schmuggler hielt. – Auf
halbem Weg fanden wir die Pension […], die wir uns [wegen] der größeren Bahn-
hofsnähe ausgesucht hatten. Wir klopften an die Haustüre, aber niemand öffnete. Ein
Herr, der zufällig nachhause kam, ließ uns ein. Der üble Geruch auf der Stiege aber
stimmte uns um und wir schlichen uns geräuschlos wieder die Stiegen hinunter u. aus
dem Hause fort. So mussten wir also doch wieder in die Stadt hinein in unser Hotel,
das wir vor wenigen Tagen erst verlassen hatten u. bekamen das schöne Zimmer über
unserem alten, sodaß wir sicher sein konnten, dass uns diesmal um ¼ 4 Uhr die vom
Madrider Zug einlangenden Leute nicht als Dreikönigszug mit Kamelgetrampel aus
dem Schlaf wecken würden. Am Vormittag heute waren wir auch wieder in der ent-
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien