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Tagebuch 1926
man sich erst den Weg bahnen müsste. Tiefe Täler mit Bächen wie Schnee glitzernd
oder weite Durchblicke ein großartig aufgebautes Bergland
…
Dann wird die Gegend lieblicher, süßer, – ein sonnig klarer warmer Abend nach
der windigen scharfen Höhe besonders angenehm. Es ist der Midi, der so ganz an-
ders wirkt als das ernste zurückhaltende Spanien. Am Ende zwischen Perpignan u.
Narbonne fährt man lange Strecken einfach durchs Meer durch. In den Städten, die
schon wie Landschaften von Viktor Tischler ausschauen, sind d. Kirchen befestigt –,
bis ins 16. Jh. haben die Seeräuber von Afrika herüber das Land hier unsicher ge-
macht. In Narbonne haben wir übernachtet, Grand Hôtel de France ; gleich bei dem
Rathaus, unser köstliches Zimmer mit 5 Wasserkrügen u. ebenso vielen Handtüchern,
hatte eine breite Terrasse, die in einen flussartigen Kanal steil abfiel – Venedig. Die
Nacht war wunderbar ruhig
…71
Gestern zwischendurch ein wenig gedichtet, aber ich weiß nicht, ob das Verschen
stehen bleiben kann.
Und wenn ich dich gemahne :
Denkst du dran ?
–
Du weißt’s nicht mehr
– Das ist das Ende.
–
Das Wunder, das ich hielt in beiden Händen,
Ist vertan.
Das Licht verblichen, die Nebel hängen schwer
Die Fragen
Holen ihre Segel ein
–
Den armen Kahn
Die Wellen schlagen
…
10.VI.
Die Reise geht zu Ende, gestern haben wir noch : Übermorgen – gesagt und heute
sagen wir schon : Morgen. Gestern waren wir noch in Lyon, französische Menschen,
Häuser, Abgeschlossenheit, Verbittertheit – heute sind wir in Solothurn. Gestern
noch unerhört heiß – heute umzogen, Regen. Gestern ein W. C. zwei Fußstap-
fen über einem Loch, wenn auch glasierte Kachel u. elementare Wasserspülung,
sodaß sie nachts ausgeschaltet werden muß, damit nicht alle Hotelgäste geweckt
werden – und heute vorbildliche englische Sitzgelegenheit ; gestern noch pardon
Madame – heute Excusez, gestern noch der französ[ische] Franc, heute o weh der
Schweizer, der gerade 7x soviel gilt. Gestern haben wir uns Mühe gegeben, die gan-
zen franz[ösischen] Franken in Ankäufen loszuwerden, heute sind wir bekümmert,
dass man zur Besichtigung der Solothurner Madonna 1 fr[anken] pro Kopf zahlen
muß (die übrigen Objekte d. Museums sind nicht sehenswert gewesen) und für
das Frühstück sogar 1,25. Gestern ein Näpflein Kaffee u. ein Croissant, dem aber
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien