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Vei arme Spielmann. 189
vorging- aue. meinen Kindcrjahren; von dein
Vennitenwesen in der Kanzlei, >vo wir uns zuerst
kennen gelernt, "Dabei ließ sie mich aber immer
allein sprechen und gab nur durch einzelne
Worte ihre Billigung oder — was öfter der
Fall war — ihre Mißbilligung zu erkennen,
Erstlich meinte sie, man muffe entweder singen
oder das Maul halten, zu reden sei da nichts.
Das Singen selbst aber ging nicht an. Im Laden
war es unziemlich, und die Hinterstube, die sie
und ihr Vater gemeinschaftlich bewohnten, durste
Zehenspitzen emporgerichtet, den Rücken mir zn-
gekehrt und mit den erhobenen Händen, wie
man nach etwas sucht, auf einem der höheren
Stellbretter hcrninstastcno. Und dabei sang sie
Lied! — Sie aber zwitscherte wie eine Gras-
mücke, die am Bache das Hälslcin wäscht und
das Köpfchen herumwirft und die Federn sträubt
und wieder glättet mit dem Schnäblein, Mir
!n'rau-?,'i»tönen schien, ein Gesang der Seelen,
Ta konnte ich mich nicht mehr halten, und saßte
mit beiden Händen ihren in der Mitte nach vorn
strebenden und mit den Schultern gegen mich
wie ein Kreisel um sich selbst. Glutrot vor Zorn
im Gesichte, stand sie vor mir da; ihre .Hand
zuckte, und ehe ich mich entschuldigen tonnte —
Sie hatten, wie ich schon früher berichtet, auf
der Kanzlei öfter von einer Ohrfeige erzählt, die
Stärke des eher klein zu nennenden Mädchens
nnd der Schwungtraft ihrer .Hand, schien höchlich
und zum Scherze übertrieben, LZ verhielt fich
aber wirklich fo nnd ging ins Riesenhafte, Ich
Himmelslichtcr, Wie Sonne, Mond und Sterne;
wie die Engclein, die Vcrsteckeus spielen und
dazn singen. Ich hatte Erscheinungen, ich war
verzückt. Sie aber, kaum minder erschrocken als
ich, fuhr mit ihrer Hand wie begütigend über die
gefchlagenc Stelle, Es mag wohl zu starl aus-
gefallen sein, sagte sie, und — wie ein zweiter
^Iinsnahl — fühlte ich plötzlich ihren warmen
Atem auf meiner Wange und ihre zwei Lippen,
nnd sie lüßte mich- nur leicht, leicht; aber es
war ein Kuß auf diese meine Wange, hier!
Tabei klatschte der alte Mann auf seine Backe,
nnd die Tränen traten ihm aus den Augen,
^vas nun weiter geschah, weiß ich nicht, fuhr er
fort. Nur daß ich auf fie losstürzte und sie in
die Wohnstube lief und die Glastüre zuhielt,
wälircnd ich von der anderen Seite nachdrängte.
Wie sie nn.i, zusammcngetrümmt und mit aller
Macht sich cntgegcnstemnicnd, gleichsam an dem Türfenstcr klebte, nahm ich mir ein Herz, ver-
ehrtester Herr, und gab ihr ihren Kuß heftig
51 !w, hier geht's lustig her! hörte ich hinter
mir rufen. Es war der Griesler, der eben nach
Hanse kam, Nu, was sich neckt — sagte er.
Tunin,hcitcn! Einen Kuß in Ehren kann nie-
mand wehren, — Sie aber kam nicht. Ich selbst
entfernte mich nach einigen halb bewußtlos ge-
stottertcn Worten, wobei ich den Hut der Gries»
mir in der Hand austauschte. Das war, wie
ich ilni schon früher nannte, dcrGlückstag meines
Lebens, Fast hätte ich gesagt: der einzige, was
aber nicht wahr wäre, denn der Mensch hat viele
Gnadcn von Gott,
Mädchens stand. Sollte ich sie mir mehr erzürne
oder mehr begütigt denken? Der nächste Besuch
kostete einen schweren Entschluß, Aber sie war
gut, Temütig und still, nicht auffahrend wie
daß ich mich fetzen und ihr helfen sollte. So
saßen wir denn und arbeiteten. Der Alte wollte
hinausgehen. Bleibt doch da, Vater, sagte sie;
was Ihr besorgen wollt, ist schon abgetan. Er
trat mit dein Fuße hart auf den Boden und
zu mischen wagte. Da stieß das Mädchen plötz»
lich einen kleinen Schrei aus. Sie hatte sia)
beim Arbeiten einen Finger geritzt, und obgleich
sonst gar nicht weichlich, schlenkerte sie mit der
Hand hin und her. Ich wollte zusehen, aber sie
lein d'nde! brummte der Alte, und vor das Mnd-
tan! und so ging er schallenden Trittes znr Türe
hinaus. Ich wollte nun anfangen, mich von
gestern her zu entschuldigen; sie aber unterbrach
mich nnd sagte: Lassen wir das und sprechen
wir jetzt von gescheiter« Dingen,
fort: Ich weiß taum selbst mehr den Ansang
unserer Bekanntschaft, aber sie kommen seit
einiger Zeit öfter und öfter, und wir haben uns
an Sie gewöhnt. Ein ehrliches Gemüt wird
Ihnen niemand abstreiten, aber Sie sind schwach,
immer ans Nebendinge gerichtet, so daß Sie
selbst vorzustehen. Da wird es denn Pflicht und
Schuldigkeit von Freunden und Bekannten, ein
Einsehen zu haben, damit Sie nicht zu Schade»
kommen, Sie versitzen hier halbe Tage im Laden,
zählen und wägen, messen und markten; aber
dabei kommt nichts heraus. Was gedenken Sie
haben? Ich erwähnte die Erbschaft meines Vaters,
Vic mag recht groß sein, sagte sie. Ich nannte
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Grillparzers sämtliche Werke
Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bändern, Volume II
- Title
- Grillparzers sämtliche Werke
- Subtitle
- Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bändern
- Volume
- II
- Editor
- Rudolf von Gottschall
- Publisher
- Hansa-Verlag
- Location
- Hamburg
- Date
- 1906
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 11.2 x 15.9 cm
- Pages
- 552
- Keywords
- Dramatik, Literatur, Gedichte
- Categories
- Weiteres Belletristik