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3. Zur englischen Literatur. 311
als Marianc auftlitt nnd die Handlung ins
Märchenhaft-Bunte übergeht, vergißt sie ihre
frühere Strenge so weit, daß sie sich die
un-jäubrNichc
Vermengung ihrer Person mit der
Maria,lens, das Sündhafte des fleischlichen Vor-
ganges, ohne Widerrede gefallen läßt und höch-
stens zum Schlüsse wieder einen Weg in das
Edle ihrer Natur findet, Ja ganz zuletzt wird
über die Charakterstärke, die sich früher dem
klösterlichen Leben bestimmt, zu einer Heirat mit
der Charakter Nngclos mit seinen unbestreit-
bare,! gute» Eigenschaften, die dann auch zum
den, im Gegensatz seiner Schändlichkeit und
Wortbrüchigleit, gehört so ziemlich ins Gebiet
der plauderhafte Lueio allein bestraft wird, ist
eine schreiende Satire auf den Titel: Maß sür
Maß, Selbst als Komposition betrachtet, ist das
Stück fehlerhaft, durch den vierten Akt nämlich,
der ganz inhaltlos und nur da ist, um die
die vielen Totschlägereien im Trauerspiel,
Damit soll lein Tadel gegen Shakespeare
viel herrliches geleistet hat, daß es hinreicht,
einen andern Dichter als Einzigen für alle
Zeiten zu adeln, Der Tadel gilt jenen stumpf-
der Junge und aus sachuukundiger Lobhudelei,
fich nn den naturwüchsigen Meisterwerken des-
selben Dichters versündigen, indem sie dieses
Stück mit ihnen in dieselbe Neihe stellen,
2<hello.
Die Teutschen betrachten den Shakespeare
als den vollkommenen Abdruck der Natur, H^nn
sie ihn, uud zwar nut Recht, über alle Dichter
der neueren Zeit setzen, so ist es vor allem die
Wahrheit seiner Dichtungen, die sie dabei im
Auge haben. Nun ist merkwürdig, das; diese
fühlt worden ist, Voltaire, ein so begabter
achtender Dichter, hat ziemlich abschätzig von
Shakespeare gesprochen, uud wenn man ilin,
nicht mit Unrecht, als befangen betrachten wollte,
Byron, dem es an Sinn für Natnrwahrheit
llin»>wcgs fehlte, von den Vorzügen seines
drungen. Woher nun diese Verschiedenheit des
Urteils in einer Sache, die sich doch jederzeit
gleich bleiben sollte und gleich bleibt, wie Natur
«nd Wahrheit? Zur Lösung dieses Rätsels bietet
nun Othello, das psychologisch getreueste Bild
nn'nschlichcr Lcideuschast, einen willkommenen
rissenen Ncden, der Kampf in Othello zwischen
Liebe und Verdacht, nichts kann wahrer sein: so entsteht die Leidenschaft, so wächst sie, so steht
kurzer Zeit, Shakespeare gibt häufig ein
statt der Natur selbst,' Wozu kaum fünf Akte
ausgereicht hätten, das wird hier in den Naum
eines einzigen (des dritten) zusammengedrängt,
Dienstordnung zuliebe, als daß er ihm gram
wäre. Er fiudet ihn, nicht in Geheim, sondern
Gattin, um ihre Vorbitte anzuflehen, Sie bittet
wirtlich vor. Was ist einfacher, natürlicher,
unschuldiger? Und doch wird es Iago möglich,
dacht zu einer solchen Höhe zn steigern, daß der
Nest des Stückes kaum noch etwas hinzufügt,
als den Mord, Ich übergehe die Geschichte des
wertes, vielbcöentendes LiebcZpfand als gewöhn-
liches Schnupftuch gebraucht, dürfte woyl kaum
als natürlich betrachtet werde», Shakespeare
geht immer den Weg der Natur, er kürzt ihn
abcr häufig ab. Das ist zugleich die Wahrheit
und die Unwahrheit feiner Poesie,
Nicht anders ist es mit den Charakteren, Des-
himmlischeste Charakter, den ein Dichter je ge-
schaffen. Wie kam es aber, daß diese zarte,
finttttsame, kindisch anhängliche Natur heimlich
aus dem Hause ihres Vaters entfloh? Man
kann sich da ganz genügende Möglichkeiten
denken. Wenn aber Shakespeare« an der Wahr»
hcit ihres Charakters lag, fo hätte er durch Än»
diese Inkonsequenz aus dem Wege schaffen
müssen. Daß Iagos Charakter unmöglich sei,
wird ziemlich allgemein zugegeben, nnd ich will
es zur Ehre der menschlichen Natur glauben.
Da wären denn eine Menge Fehler! Wie
kommt es denn aber, daß wir bei der Tar-
stellnng oder bei gehöriger Lesung von diesen
Fehlern gar nicht gestört werden, daß sie wie
lauter Vortresflichkciten anf uns Wirten? Shake-
speares Wahrheit ist eben eine Wahrheit des
Prägnanz der Ausführung, die Gewalt seiner
Verkörperung ist so übermächtig, daß wir an
die Möglichkeit gar nicht denken, weil die Wirk-
lichkeit vor uns steht. Die Gabe der Dar-
stellung in diesem Grade hat alle Vorrechte der
Natur, die wir anerkennen müssen, auch wo
wir sie nicht verstehen,
wahrscheinlich durch sein Publikum gezwungen
worden, die bmite Begebenheiten und keine
gleich durch den Inhalt feiner Stoffe, tne er
fertig vorfand, als Wirklichkeiten aufuahm und
von denen er nur höchst felten abwich,
geringeren Kräften anstreben, mögen uns dieser
Fehler nur bewußt werde» und in Shakespeare
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Grillparzers sämtliche Werke
Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bändern, Volume II
- Title
- Grillparzers sämtliche Werke
- Subtitle
- Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bändern
- Volume
- II
- Editor
- Rudolf von Gottschall
- Publisher
- Hansa-Verlag
- Location
- Hamburg
- Date
- 1906
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 11.2 x 15.9 cm
- Pages
- 552
- Keywords
- Dramatik, Literatur, Gedichte
- Categories
- Weiteres Belletristik