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. Zur Geschichte und Zeitgeschichte. 371
man es als die Mitte Mischen zwei Entgegen-
gesetzten betrachtet^ denn dic>c Mitte ist die Un-
beweglichkcit, die Gleichgültigkeit, die Indiffe-
renz, Sie muß nicht die Mitte zwischen Nega-
tion nnd Affirmation, fondern die Witte zwifchen
Äußersten fein, Sc isl die Mitte zunscln'n
sondern die Gesetzlichkeit: und erst Zlvischen Ge-
setzlichkeit nnd Ziigellosigkeit liegt mitten innc
die Freiheit,
Ein vor kurzem verstorbener Monarch hat bei
ein« feierlichen Gelegenheit den Professuren
eiu.-r ^andesunivcrsität rundheraus erklärt' Ich
brauche keine Gelehrten! Tiefem Anssprnchc
Hütten wir zwar entgegensetzen können- Wenn
Ew. Majestät keine Gelehrten brauchen, so
schrnnüheit aber ganz richtigen Verstand besaß,
hat etwas ausgesprochen, dessen Wahrheit nirlit
geleugnet weiden kann: der Zweck des Staates
ist nicht die Bildung von Gelehrten,
Man gefällt sich zwar in neuerer Zeit, den
Staat als den Inbegriff und die Wesenheit alles
Anzustrebenden und menschlich Erreichbaren anf-
lebhaft gegen jene Bevormundung rw» feite» des
Staates sträubt, die au? einer solchen Ansicht
notwendig hervorgehe» müßte, Tiefe Anficht und
Staaten des Altertums statt, wu Fremder und
Feind, oder wenigstens Fremder nnd Barbar,
stimmte Staat zugleich Quelle nnd Hüter alles
Menschlichen ist, fällt alles Menschliche not-
I» m>ucrer Zeit aber, wo der Freizügigkeit die
ganze Erde offen steht und man diese» oder
jenen äußeren Staat leicht für einen besseren
uud wü»fchc»swerteren erkennen könnte, als den
eigene», hat sich der Zweck des Staates auf das
reduciert, was jeder leisten ka»n und muß, wenn
er »lü'lliaupt oi» Staat genannt werden soll:
Sicherheit »nd, als a» de» Ort gekniipft, ^ördr>
rung des materielle» Wohles, Tie geistige»
Interessen fallen dadurch nicht weg, aber fie
werden dem Nutzen dienstbar, »iit ihrem Über-
schuß reichen sie über die Grenze» des Staates
hinaiis und gehören der ganzen Menschheit,
We»» daher der Staat U»terrichtsanstalten
gründet, so hat er vor allem den praktischen
Nutzen der Wissenschaft im Auge, Eine Theo-
logie, die, statt die Religion z» unterstützen, ihre
Grnndfestl'» angnfü': eine Jurisprudenz, die den
Standpunkt des Rechtes als eine dialektisch sich
aufhebende Tarstelluug und das Verbrechen als
eine» Fehler im Schließe» oder ein Unglm! b^
trachtete; eine Medizin, welche, die
außer acht lassend, sich mit naturwissenschaft- licher Spekulation abgäbe, lnitto» durchaus
keinen Anspruch, in den Kreis seiner speziellen
Anfgabe gezogen zu werden.
Man hat zwar schon den Name» Universität,
folgert, das; alles Wifsenswürdigc auf diesen Au-
staltti! gelehrt werden müsse. Das war auch
ucrsitäten in der letzten Hälfte des Miltelalters,
Ta es in jener Zeit außer den Klassikern und
den theologischen Scholastikern leine Bücher gab,
und auch diese nur in seltenen und kostbaren
Exemplaren, so war das Vehikel der Bildung
allerdings auf die Lehrstühle und den münd-
lichen Vortrag beschränkt, Gcgcuwärtig aber,
wo die Literatur als eine zweite Sintflut die
W.'lt übcrfchwcmmt und man ein Wunder von
Gelehrsamkeit sein lann, ohne je eine Universität
besucht zu haben, stellt sich das Verhältnis ganz
anders heraus, Tas Wissen nin des Wissens
willen wird in praktisch vcriiüiiftigen Ländern
der Bucl'drnckerprcsse und dein Prioatfleiße über»
las^'», nnd die Staaisanstalten beschränken sich
auf den Unterricht als Vollendung der Erziehung
und als Bildung für praktische Zwecke,
Europas geltenden Ansicht wurden nun in
Teuissblnnd die llnivcrsitäten auf die Gclchr»
famkeit, auf die Befriedigung der Wißbegierde,
um nicht zu sagen: wissenschaftliche Neugicrde,
bafiert. Mit dem Schimpfnamen der Brot»
in de» Hintergrund, und Lern» und Lehrfreihcit
ward das Fcldgeschrei der Sllmk-, Va^ unn die
Lrrnsrciheit betrifft, fo ist dafür gesorgt, daß die
Väume nicht in den Himmel wachsen, Tie
seine Lcrnfreihcit nicht auf das zu Lernende ge»
richtet hat, fällt durch. Viel schreiender aber ist
der Unsinn der Lehrfreiheit, Tcr Schriftsteller,
der für die gelehrte Welt, auf jeden Fall für
liche bestrafen: der Professor aber, der die un»
ersahrcne und widerstandslose Jugend vor sich
hat, soll, verstärkt dnrch das Gewicht der Auto»
! schlendern können. Auf welche Art die Lehr»
freiheit zu beschränken sei, gehört nicht hierher
— auf leinen Fall durch die Polizei —, daß sie
aber iu ihrer ganzen Ausdehnung nicht bestehen
könne, leuchtet ein,
ob ihr Palladium darin bestände, daß jeder Pro»
fcssor von der Kanzel das verrückteste Zeug vor»
tragen dürfe, Tcr Professor kann aber auf
zweierlei Art lehren: durch Bücher für die
gelehrte Welt und durch den Vortrag für die
Schüler, Tie Freiheit der Lehre in Schrift und
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Grillparzers sämtliche Werke
Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bändern, Volume II
- Title
- Grillparzers sämtliche Werke
- Subtitle
- Neue illustrierte Ausgabe in zwei Bändern
- Volume
- II
- Editor
- Rudolf von Gottschall
- Publisher
- Hansa-Verlag
- Location
- Hamburg
- Date
- 1906
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 11.2 x 15.9 cm
- Pages
- 552
- Keywords
- Dramatik, Literatur, Gedichte
- Categories
- Weiteres Belletristik