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56 Johannes Holeschofsky
sei die Wissenschaft so für ein bestimmtes Staats- und Gesellschaftsmodell in Anspruch
genommen worden wie im totalen Staat der Sowjetunion. Und Redlich sprach direkt die
Gefahr für die deutsche Wissenschaft an : „[…] wovor uns bangt, ist, daß auch die deut-
sche Wissenschaft diesen Weg geht“119. Das Ideal der freien Forschung und Lehre müsse
mit „treuerster nationaler Gesinnung“ vereinbar sein. In diesem bemerkenswerten kleinen
Aufsatz positionierte sich Redlich gleich in zweierlei Hinsicht : Einerseits ließ der unter-
schwellige Hinweis auf die Gegenreformation Redlichs traditionell antiklerikale Gesin-
nung durchscheinen und zeigt, dass der alte Nationalliberale keineswegs zum Mann des
politischen Katholizismus mutiert war. Zugleich aber wurde unmissverständlich deutlich,
dass Redlich im autoritären „Ständestaat“ eindeutig das kleinere Unheil sah – und somit
für einen österreichischen „Nationalen“ eine außergewöhnliche Haltung einnahm. Diese
Ansicht Redlichs wurde eindeutig durch eine Auseinandersetzung bestätigt, die er im Jahr
1936 mit Srbik ausfocht. Wie aus Srbiks edierten Briefen hervorgeht, warf Redlich dem
jüngeren Historiker vor, dieser messe Österreich und Deutschland mit zweierlei Maß. Der
Verfechter der „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung“ verwahrte sich dagegen : Ihm sei
jede einseitige Haltung fremd. Es gehe ihm, Srbik, darum, die positiven Seiten des Na-
tionalsozialismus zu stärken und „Hitler gegen Rosenberg“ in Schutz zu nehmen120. Ein
zusätzliches Indiz für Redlichs kritische Haltung zum NS-Regime ist wohl darin zu sehen,
dass er 1938 als Präsident der Wiener Akademie der Wissenschaften zurücktrat, wie unten
noch gezeigt wird.
8.2 Archivbevollmächtigter der Republik Österreich / Redlichs Verdienste um das österreichische
Archivwesen
Schon als junger Archivar hatte sich Redlich intensiv mit grundsätzlichen Fragen des
österreichischen Archivwesens befasst121. Seit 1894 Mitglied des k. k. Archivrates, entwi-
ckelte Redlich Ansätze zu einer Reformierung der österreichischen Archive. Wichtige und
entscheidende Ideen wurden umgesetzt und haben die Ausbildung, das Aufgabenprofil
und auch die Organisation der österreichischen Archivare bis heute mitgeprägt. Redlichs
Kernidee war das Herkunftsprinzip, das er von Sickels Urkundenlehre ableitete : Archiv-
gut sei in der Form aufzubewahren, wie es aus der abliefernden Behörde hervorgegangen
119 Ebd.
120 Heinrich Ritter von SrBik, Die wissenschaftliche Korrespondenz des Historikers 1912–1945, hg. v. Jürgen
Kämmerer (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 45, Boppard am Rhein 1988) 458f.
121 Vgl. ausführlich Ludwig Bittner, Die zwischenstaatlichen Verhandlungen über die österreichischen Archive
nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns, in : Archiv für Geschichte und Politik 3 (1925) 58–96. Die
Tätigkeit Redlichs als Archivbevollmächtigter wurde zum Gegenstand mehrerer Forschungen und Darstel-
lungen, siehe zuletzt Just, Redlich (wie Anm. 1) mit weiterführender Literatur.
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Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 3
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 3
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 630
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien
Table of contents
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625