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Ludo Moritz Hartmann (1865–1924) 77
Aussagen in Lehrveranstaltungen ablehnte, so sehr war er im Hochschulleben politisch
engagiert : Mehr als zwei Jahrzehnte fungierte er als Obmann-Stellvertreter der 1899
gegründeten Vereinigung österreichischer Hochschuldozenten, die die Interessen der Pri-
vatdozenten vertrat. Er war eine treibende Kraft hinter der Einrichtung der deutschen
Hochschultage und der Gründung des Hochschullehrer-Vereins, bis er schließlich 1921
die „Vereinigung sozialistischer Hochschullehrer“ gründete und als Obmann leitete63.
Schließlich war Hartmanns offene Kritik an der Universität Wien und deren „verfehlte[r]
Berufungs- und Wissenschaftspolitik, die die besten Lehrkräfte ins Ausland ziehen, Lehr-
stühle über Jahre hinweg aus durchsichtigen Gründen unbesetzt lässt und bei Nominie-
rungen mehr an politische und konfessionelle, d. h. auch antisemitische Qualifikationen
denkt als an sachliche“, seiner Berufung nicht dienlich.64 In diesem Sinne protestierte
Hartmann gemeinsam mit Julius Tandler und Carl Grünberg 1922 beim Rektor der
Universität Wien gegen eindeutige Saalverbote und Ausschreitungen gegen jüdische und
sozialistische Studenten und Professoren65. Andererseits jedoch verliehen die Universi-
täten Bonn und Heidelberg Hartmann den Ehrendoktor, Berlin wollte ihn berufen, in
Wien scheiterte zuvor die Ernennung zum außerordentlichen Professor am Ministerium,
nicht jedoch an der Fakultät, auch wenn es dort Widerstände gab. Hartmanns wissen-
schaftliches Programm war nicht konsensfähig, aber seine Publikationen erfreuten sich
weithin großer Wertschätzung66.
An der Philosophischen Fakultät der Universität Wien nahmen die Geschichtswissen-
schaften eine Sonderstellung ein : Kein anderes Fach verfügte über vier Ordinarien, denen
auch noch zusätzlich ein Extraordinarium zur Seite gestellt wurde67. Die hohe Zahl der
Professoren der Geschichtswissenschaft führte dazu, dass die Historiker bei den Kommis-
sionsverhandlungen über Personalangelegenheiten oft unter sich blieben, während Ver-
treter anderer Disziplinen sich nur selten an den Debatten beteiligten. Die aus den Kom-
missionen hervorgehenden Vorschläge fanden im Fakultätsplenum für gewöhnlich die
erforderliche Mehrheit. Die hohe Zahl an Ordinarien und Extraordinarien belegt auch
die Bedeutung, die dem Fach Geschichte von Seiten des Ministeriums für Cultus und
Unterricht beigemessen wurde, das mitunter auch Eigeninitiative für den weiteren Aus-
63 Stein, Hartmann (wie Anm. 14) 316 ; siehe auch Reimpell, Heinrich Friedjung (wie Anm. 2) 53.
64 Ludo M. Hartmann, Der Niedergang der deutsch-österreichischen Universitäten, in : Die Nation 19 (1902)
43, 678–670, zitiert nach Fellner, Hartmann und die Österreichische Geschichtswissenschaft (wie Anm. 2)
76.
65 Stadler, Der Wiener Kreis (wie Anm. 40) 298.
66 Bruch, Hartmann (wie Anm. 62) 121.
67 Irene Ranzmeier, Professorenkollegium oder Ministerium ? Allianzen und Netzwerke im Kontext der Wiener
Philosophischen Fakultät um 1900, in : Geschichtsforschung in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhun-
dert, hg v. Christine Ottner, Klaus Ries (Stuttgart 2014) 284–304, hier 285.
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 3
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 3
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 630
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien
Table of contents
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625