Page - 90 - in Österreichische Historiker - Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 3
Image of the Page - 90 -
Text of the Page - 90 -
90 Celine Wawruschka
nis dieser Auseinandersetzung für Hartmann war, dass der Krieg und die folgende Revo-
lution endlich den seiner Meinung nach anachronistischen Obrigkeitsstaat Österreich-
Ungarn zerschlagen haben würde und damit eine neue Zeit anbreche : „die Epoche der
Selbstbestimmung der Völker“115. Hartmann war schon während des Ersten Weltkriegs
Hetzkampagnen gegenüber relativ kritisch und distanziert geblieben. Mit zunehmender
Kriegsdauer forderte er immer nachdrücklicher die Einberufung des Parlaments, löste sich
immer stärker von der offiziellen Kriegspolitik und kam schließlich in offenen Gegensatz
zu dieser. Diese Entwicklung der Ansichten Hartmanns entsprach jener in der Sozialde-
mokratischen Partei116.
Der großdeutsche Gedanke erlebte nach dem verlorenen Krieg in Österreich wie in
Deutschland eine Renaissance, allerdings überwiegend in abstrakter und emotionaler
Hinsicht. In der Habsburgermonarchie hatte sich nie ein starkes einheitliches Staats-
und Nationsgefühl westeuropäischen Typs entwickelt ; vielmehr waren mehrfache Iden-
titäten vorhanden, in denen sich widerstreitende nationale, kulturelle, religiöse, regio-
nale und ständische Schichten kollektiven Zusammengehörigkeitsgefühls überlagerten.
Mit dem Zerfall der Monarchie gewann daher bei den deutschsprechenden Österrei-
chern das Gefühl deutscher nationaler Identität das Übergewicht gegenüber dem al-
ten österreichischen Patriotismus, der sich ohnehin – jedenfalls in den bürgerlichen
Klassen – mit der deutschen Reichstradition und der deutschen Kultur eng verbunden
verstanden hatte117. In der Bevölkerung und auch in den politischen Parteien wurde
die Lebensfähigkeit eines deutsch-österreichischen Reststaates bezweifelt und in einem
Anschluss an den großen Nachbarn im Norden die einzige Überlebensmöglichkeit ge-
sehen118. Österreichs politische Lager waren sich jedoch bezüglich der Anschluss-Idee
nicht einig. Während die konservativen Führer und Anhänger der Christlichsozialen
Partei wenig Interesse an einem Beitritt in ein nun sozialdemokratisch dominiertes
Deutschland hatten, begeisterten sich sowohl Sozialdemokraten als auch deutschnatio-
nale Splittergruppen für diese Idee119. Nachdem das Ziel, Deutsch-Österreich mit dem
Deutschen Reich zu vereinigen, von der deutsch-österreichischen Sozialdemokratie ak-
zeptiert worden war, gab es – soweit es sich feststellen ließ – innerhalb der Partei keine
115 Vgl. Hartmann, Selbstbestimmungsrecht (wie Anm. 113) 1f.
116 Dachs, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 70) 25 ; Ramhardter, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 2) 65.
117 Gerhard Botz, War der „Anschluss“ erzwungen ?, in : Fünfzig Jahre danach. Der Anschluss von innen und
außen gesehen, hg. v. Felix Kreissler (Wien/Zürich 1989) 100f.
118 Rolf Steininger, 12. November 1918 bis 31. März 1938 : Stationen auf dem Weg zum „Anschluss“, in :
Österreich im 20. Jahrhundert. Von der Monarchie bis zum Zweiten Weltkrieg 1, hg. v. Rolf Steininger,
Michael Gehler (Wien 1997) 100.
119 Michael E. Holzmann, Die österreichische SA und ihre Illusion von „Großdeutschland“ 1 : Völkischer
Nationalismus in Österreich bis 1933 (Berlin 2011) 18.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 3
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 3
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 630
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien
Table of contents
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625