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244 Martina Pesditschek
bok ebendort in Litzelstetten das Manuskript seiner im Jahr darauf ausgelieferten Pro-
grammschrift „Was ist deutsche Volksgeschichte ?“335 endlich ab. In dieser warb er für
die Einrichtung eines zentralen (und auch die Leitstelle des „Atlas der deutschen Volks-
kunde“ konstituierenden336) „Institutes für deutsche Volksforschung“337, als dessen Lei-
ter Helbok zweifellos sich selbst ausersehen hatte ; dabei schlug er nun anders als in der
„Siedelungsforschung“ von 1921 keinen bestimmten Standort vor. „Es spricht aber vieles
dafür, daß Adolf Helbok nach wie vor an Leipzig dachte, wenn auch anzumerken ist,
daß […] zumindest vorübergehend wohl auch die deutsche Hauptstadt eine Alternative
darstellte“338. Er glaubte dabei einen Kairos am Zipfel zu fassen : „Heute ist die Zeit auch
politisch reif, bisher hatte bei den Regierenden der Sinn für solche Forschung gefehlt. Es
ist Adolf Hitlers weltgeschichtliches Verdienst, die Politik aus den Geleisen doktrinärer
und volksferner Ideenbahnen gehoben und auf den Boden des natürlichen Volkserlebens
gestellt zu haben. Damit ist die Zeit gekommen, da es einen Sinn hat, einen Vorschlag wie
den folgenden an die Öffentlichkeit zu bringen“339.
In dieser programmatischen Schrift finden sich bereits die meisten Formeln und Leitmo-
tive seiner mehr oder weniger programmatischen Schriften der Folgejahre : Als das zentrale
Objekt seiner Forschungen wird hier schon der deutsche „Volksleib“ bezeichnet und dieser
nicht als „Summe von Einzelindividuen“, sondern als „Organismus“ definiert340. Im Gegen-
335 HelBok, Was ist deutsche Volksgeschichte ? (wie Anm. 295).
336 Ebd. 46f.
337 Die Idee der Einrichtung eines solchen zentralen Instituts lag damals zweifellos in der Luft, Anneliese
Bretschneider hatte schon im März 1933 eine Denkschrift mit dem Betreff „Errichtung eines Volkstumsfor-
schungsinstitutes in Berlin“ verfasst und eingereicht, wobei nach diesem Entwurf die Leitung des hier na-
türlich inkludierten Volkskundeatlas „zunächst“ von „Prof. Helbok – Innsbruck“ fortgeführt werden sollte ;
vgl. Simon, Blut- und Boden-Dialektologie (wie Anm. 236) 15–21. Auch der mit dem Amt Rosenberg
verbundene Prähistoriker Hans Reinerth verfolgte ähnliche Pläne, was Helbok zum Schaden gereichen sollte,
vgl. unten S. 254f.
338 Fehn, „Biologische Volkstumsgeschichte“ (Bibl.) 477.
339 HelBok, Was ist deutsche Volksgeschichte ? (wie Anm. 295) VI.
340 Ebd. 1f. Wie schon von Ludwig, „Ein sonniges Neuland“ (Bibl.) 57 bemerkt, liegt hier die völlige Revision
einer eigenen zuvor vertretenen Anschauung vor, da Helbok 1930, in HelBok, Mensch und Volk (wie Anm.
209) 18 „Volk“ eben noch als „die Summe der einzelnen Individuen, körperlich, geistig, seelisch“ definiert
hatte. Ein Nämliches gilt für die folgende Absage in Ders., Was ist deutsche Volksgeschichte ? (wie Anm. 295)
3 : „Damit sagen wir uns los von jener dem liberalistischen Geist entsprungenen These, die Volkskunde hätte
vulgus in populo zu erforschen oder hätte die Unterschicht oder schöner die Mutterschicht des Volkes nur
zu erkunden. Wir sagen uns los von Definitionen, die das sogenannte gemeine Volk zu
einem fast exotischen Sonderkreis neben der Welt der Intellektuellen stempelten und
damit dem Objekte der Völkerkunde ein solches aus dem eigenen Volke an die Seite
stellten.“ Genau eine solche Definition der Volkskunde hatte Helbok noch 1928 in Ders., Volkskunde
Vorarlbergs (wie Anm. 218) 1 selbst gegeben : „Nur Kulturvölker haben diese zwei [Naumannschen] Schichten.
Völker, die nur eine Mutterschicht haben, die keine Tochter-Oberschicht hervorbrachten, sind nur Naturvöl-
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Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 3
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 3
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 630
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien
Table of contents
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625