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Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984) 593
gesprochen283. Die Zusammenarbeit mit der ÖVP trug erst während der ersten Regierung
unter Raab Früchte, als Borodajkewycz an die Hochschule für Welthandel berufen wurde.
Ungefähr bis zur Zeit des Verlusts seiner Position beim Verlag Otto Müller blieb Bo-
rodajkewycz der Meinung, die er in August 1947 Höttl mitteilte, dass er für eine Ge-
schichtsprofessur an einer gegenwärtigen Hochschule nicht geeignet sei. Eine Hochschule
war für ihn seit dem NS-Regime zu einem zu sehr politischen Ort geworden, zudem
schätzte er in seiner Überheblichkeit die neuen Geschichtsprofessoren an den Universi-
täten nicht und äußerte, dass ich bereits nach 10 Minuten nicht wüsste, was ich heute als
Historiker sagen soll 284. Diese Worte spiegeln neben einem versteckten Neid auch sein
Empfinden einer Entwurzelung aus dem damals aktuellen geschichtswissenschaftlichen
Diskurs wider, in dem auf die Idee eines selbständigen Staates Österreichs gesetzt wurde,
während die gesamtdeutsche Geschichtsauffassung seines Lehrers Srbik völlig aus dem
akzeptierten Geschichtsnarrativ verdrängt worden war285. Diese Entwurzelung erstreckte
sich für ihn vom Kriegsende bis ungefähr in die Mitte der 1950er-Jahre, als er sich als
ein zielloser und Fremder aus einer alten Welt empfand286 und nostalgisch auf die ver-
283 Ebd., Bundeskanzleramt an Borodajkewycz vom 17.11.1951. Borodajkewycz verstand diese Entscheidung als
ein Zeichen von Ungnade der Regierung gegenüber ehemaligen Nationalsozialisten. In einer brutalen Art, die
sich nicht einmal mehr die Mühe nimmt, auch nur die Form zu wahren, ärgerte er sich im Schreiben an Raab
vom 15.11.1951 (ÖStA KA, NL TB, Sig. B1251/128, wie Anm. 281) nach einem Besuch bei Sektionschef
Dr. Chaloupka, wird mir der Stuhl vor die Türe gestellt, wird mir gezeigt, dass ich für gegenwärtige Regime nur
ein Paria bin, mit dem man Willkür verfahren kann. […] Das [Zusammenarbeit mit ÖVP] scheint für das
Kanzleramt ganz uninteressant zu sein, es radiert diese Zeit einfach aus, um mich desto bequemer als ehemaligen
Nationalsozialisten behandeln zu können. Es wünscht wohl gar nicht, dass ehemalige Nationalsozialisten wieder
loyale Staatsbürger werden, weil es einfacher und billiger ist, sie als Staatsfeinde abtun zu können !
284 Ich bin fest überzeugt, dass die grosse Epoche unserer Universitäten zu Ende ist. Sie war untrennbar verbunden mit
dem liberal-humanistischen Prinzip der freien Wissenschaft. Du weisst welche Schwierigkeiten ich schon mit mei-
ner unverdorbenen und gewissenhaften Auffassung von Wissenschaft in der abgelaufenen Epoche hatte. Man hat
mir schliesslich in Prag den Stuhl vor die Tür gestellt. Ich habe keine Lust, mich nochmals auf eine Lehrkanzel zu
stellen und als „Gelehrter“ das nachzuplappern, was mir wieder irgendeine Politik vorschreibt. Dabei geht mir der
Verkehr mit der akademischen Jugend sehr ab. […] Dazu kommt das jammervolle Aussehen, das die Universitäten
heute haben. Heinrichs [Srbik] Stelle hat Hugo Hantsch bekommen und wenn ich Dir sage, dass in Graz Alex No-
wotny die neuere Geschichte verzapft, so wirst Du mich und unsere Freunde verstehen, dass wir in der Gesellschaft
dieser qualligen Troglodyten nichts zu suchen haben, abgesehen davon, dass ich bereits nach 10 Minuten nicht
wüsste, was ich heute als Historiker sagen soll. Ebd., Sig. 1521/187, Schreiben Borodajkewycz an Höttl vom
10.08.1947.
285 Vgl. Günter Fellner, Die österreichische Geschichtswissenschaft vom „Anschluß“ zum Wiederaufbau,
in : Kontinuität und Bruch 1938–1945–1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und Wissenschaftsge-
schichte, hg. v. Friedrich Stadler (Münster 22004) 135–155 ; Gernot Heiss, Von der gesamtdeutschen zur
europäischen Perspektive ? Die mittlere, neuere und österreichische Geschichte, sowie die Wirtschafts- und
Sozialgeschichte an der Universität Wien 1945–1955, in : Zukunft mit Altlasten (wie Anm. 271) 189–210.
286 Er studierte Bücher über den Nationalsozialismus und dessen Zusammenbruch sowie über die Nürnberger
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Volume 3
- Title
- Österreichische Historiker
- Subtitle
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Volume
- 3
- Author
- Karel Hruza
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20801-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 630
- Keywords
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Category
- Biographien
Table of contents
- Österreichische Historiker 1900–1945. Einleitung und Kommentar zum dritten Band 9
- Oswald Redlich (1858–1944). Historiker über oder zwischen den Parteien ? 29
- Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Geschichtsschreibung im Lichte der frühen Sozialdemokratie Österreichs 67
- Hermann Wopfner (1876–1963). Der „treueste Sohn Tirols“ 97
- Hugo Hassinger (1877–1952). Volkstumsforscher, Raumplaner, Kartograph und Historiker 123
- Hans Uebersberger (1877–1962). Eine Gratwanderung : (S)eine Karriere im Fokus privater und öffentlich-beruflicher Spannungen 157
- Adolf Helbok (1883–1968). „Ich war ein Stürmer und Dränger“ 185
- Camillo Praschniker (1884–1949). Wiedergewinnung aus der Zerstörung 313
- Balduin Saria (1893–1974). „Ein deutschsprachiger Sohn der Untersteiermark“ 379
- Erna Patzelt (1894–1987) und Lucie Varga (1904–1941). Leben zwischen Kontinuität und Diskontinuität 405
- Otto Brunner (1898–1982). „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ 439
- Richard Wolfram (1901–1995). „Wir haben einen Stern, dem wir gefolgt sind“ 479
- Taras (von) Borodajkewycz (1902–1984). Zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus : Der Versuch, das Unvereinbare zu verbinden 527
- Abkürzungsverzeichnis 607
- Abbildungsnachweis 610
- Personenregister 611
- Autorinnen und Autoren 625