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gerne die cour machen möchte, wenn es anginge. Bei lerchenfeld endlich
fühle ich mich wie im kreise der meinigen und bin sehr gerne und oft dort.
Mit Gräfin Esterhazy, mit welcher ich sonst am engsten liirt und welche
mich auch jetzt höchst freundschaftlich wieder aufnahm, bin ich bisher nur
in salons zusammengetroffen, so daß ich unser voriges verhältniß noch
nicht wieder habe erneuern können.
im ganzen wäre Wien durchaus der ort nicht, wo ich leben möchte, das
leben ist mir hier viel zu kleinlich, zu kleinstädtisch, die Ansichten zu eng,
zu beschränkt, kurz, ich fühle mich hier ganz déplacirt, und was ich am
meisten fürchte, was überhaupt eine meiner hauptbesorgnisse ist, ist, nach
und nach so zu werden wie die, die mich umgeben, so dumm und flach, wer
weiß, ob ich nicht dem schon die ruhe zuzuschreiben habe, mit welcher
ich meiner nächsten Zukunft entgegen sehe, welche mich noch vor kurzem
außer mir gebracht hätte.
Aber was war sonst zu thun? da es mit der diplomatie nichts ist, so blieb
mir nur übrig zu quittiren – und dann? entweder mich auf die literarische
letteratur zu werfen, aber das kann und will ich von Pisino aus ebenfalls
thun, d.h. wenigstens meine sporen darin verdienen, oder aber als Aventu-
rier auf eine reiche heirath ausgehen, aber wie unsicher wäre das gewesen!
so aber gehe ich jetzt nach Pisino mit dem festen entschlusse, einige
monate dort ruhig die fernere entwicklung meines schicksals abzuwar-
ten. Zeigt sich mir bis dahin eine chance, zum vicekönig nach mailand zu
kommen, tout mieux, wo nicht, so werde ich mich entweder in ein anderes
gouvernement transferiren machen oder aber, was viel wahrscheinlicher
und jetzt mein vollkommener vorsatz ist, quittiren. habe ich quittirt, dann
steht mir die Welt offen, und erreiche ich dabei auch nicht hohe ehren und
Würden, so erreiche ich doch ein bewegtes, ereignißreiches, thätiges leben
und wenigstens, so hoffe ich, einen namen, der mich vor ewiger verges-
senheit schütze, also ich gewinne nach meiner idee jedenfalls dabei. neben
diesem hätte ich jetzt freilich einige kleine neben- und Zwischen-ideen, ob
es nicht vielleicht möglich wäre, Beides zu vereinigen, mein streben nach
einer (in meinem sinne) bewegten, thaten- und ruhmvollen existenz und
mein natürlicher Wunsch, so spät als möglich mit der Wirklichkeit, mit
meinen umgebungen, meinem vaterlande, meinen gewohnheiten etc. zu
brechen. so beschäftigt mich denn wieder mein alter gedanke, eine Zeit-
schrift zu gründen, welche in der Art des Berliner politischen Wochenblat-
tes als vernünftiger, gemäßigter, aber entschiedener vorkämpfer des Prin-
cipes, welches österreich vertritt (oder eigentlich vertreten soll, denn eben
was uns abgeht, ist ein Princip, wenn man nicht das der dummheit und des
stillstandes für ein solches annehmen sollte), auftreten sollte. Wenn ich
auch oft wider meine überzeugung sprechen müßte, so bin ich doch über-
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume I
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- I
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 744
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien