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Oktober 1840
eine ganz eigene unendlich liebliche und anmuthige Bauart, die häuser
sind alle so schmuck, so élegant und dazu jeder fleck erde zu gärten und
Blumenparterres benützt, so daß man wirklich glaubt, das ganze land sey
ein englischer Park. Dieser Tage und besonders heute war zudem magnifi-
ques Wetter, und so konnte ich mich denn nicht satt schlendern; auch ver-
lohr ich so fast den ganzen tag. ich hatte hier noch das zoologische cabinet
besuchen wollen, das unter der Aufsicht des berühmten Professor oken
steht, weil ich gehofft hatte, ihn da zu treffen, kam aber vor lauter herum-
schlendern nicht dazu; die Gegend ist aber wirklich gar zu schön!
Auch ein etwas mehr aristocratisches Aussehen hat Zürch als die üb-
rigen schweitzer städte, man sieht hier denn doch zuweilen equipagen
und reiter, obwohl beydes ziemlich unelegant, aber doch immer besser als
die bescheidenen Einspänner in Luzern und sonst; auch gibt es zu meiner
verwunderung viel militär hier: Zapfenstreich, rappelle, militärmusik,
hauptwachen etc., freylich waren gerade gestern und heute die jährlichen
revuen, wie ich heute erfuhr, aber auch ohne dem, glaube ich, hat der can-
ton Zürch eine größere stehende macht auf den Beinen als die übrigen.
übrigens ist die schweitz jetzt ruhig, und der bisherige schwindel legt
sich immer mehr, das hat auch das eidgenössische übungslager gezeigt,
welches heuer bey Wettingen-Aargau stattgefunden hat; im Wallis sind
die streitigkeiten durch einen compromiss beigelegt worden, womit beyde
Theile zufrieden sind; im Aargau wird soeben und in voller Ruhe die Verfas-
sung revidirt; ein gleiches hat künftiges Jahr in Luzern zu geschehen, wo
im April dieses Jahres eine aristocratische Reaction auszubrechen drohte;
jedoch ist jetzt Alles wieder ruhig; in Bern dauert die agitation des Jura
fort, um sich von diesem kanton zu trennen und einen eigenen kanton
zu bilden. in Zürch geht die neue regierung, denn die revolution vom 6.
september war nur als ein ministerwechsel zu betrachten, wie fürst met-
ternich sich ausdrückte, denn nur die regierungsglieder wurden geändert,
d.h. die extremen radicalen durch gemäßigte ersetzt, die neue, d.h. seit
1832 gegebene verfassung selbst aber blieb unangetastet, ihren geregel-
ten Gang;1 nur tessin ist noch immer ein foyer radicaler machinationen
und umtriebe, aber welsche hunde sind ungefährlich. doch dauern noch in
mehreren kantonen mitunter auch heftige mißhelligkeiten in kirchlichen
und schulangelegenheiten fort, lauter nachwirkungen der Zürcher revolu-
tion, Protestanten und katholiken, orthodoxe und heterodoxe hetzen sich
1 Am 6.9.1839 trat im sog. „Zürichputsch“ die liberale kantonsregierung unter dem druck
tausender nach Zürich marschierender Bauern zurück und wurde durch eine konserva-
tive regierung ersetzt. die verfassung des kantons trat nach einem volksentscheid vom
20.3.1831, nicht 1832, in kraft.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume I
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- I
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 744
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien