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102 Tagebücher
gegenseitig, so ist es u.a. mit dem evangelischen Antistes hurter in schaff-
hausen, dem seine glaubens-genossen Zuneigung zum katholicismus vor-
werfen, weßhalb ein großer scandaloser streit entstanden ist und noch dau-
ert. die schlechteste seite der schweitzer Zustände sind ihre öffentlichen
Blätter; man kann nichts Pöbelhafteres, Gemeineres, Erbärmlicheres lesen
als die große mehrzahl derselben.
rapperswyl 2. oktober Abends
L’homme propose et Dieu dispose; das kann man hier wirklich mehr als
sonst sagen, parturiunt montes, nascetur ridiculus mus; ich nahm ganz
stolz einen eilwagenschein nach chur und sitze nun ganz kleinlaut in rap-
perswyl!
Heute Früh um 7 1/2 Uhr verließ ich Zürch im Eilwagen; die Fahrt ging
immer längs des sees hin zwischen einer ununterbrochenen reihe von
deliziösen landhäusern und villen und gärten, kurz war charmant, ob-
wohl Anfangs die Morgennebel einen Theil der Aussicht benahmen; auch
die gesellschaft war sehr gut, u.a. ein eidgenössischer oberst, der in stäfa
einstieg und viele campagnen unter napoleon mitgemacht hatte, etc. in
rapperswyl, wo wir gegen 11 uhr ankamen, wechselten wir nach der leidi-
gen gewohnheit und cantonal eifersüchteley (denn hier ist schon kanton
st. gallen) den Wagen und fuhren weiter, noch immer längs des sees bis
schmerikon, wo er aufhört, und sahen u.a. die superbe villa des großen
Pariser schneiders staub, der von richterswyl am Zürcher see gebürtig
ist und sich ein vermögen von 1 1/2 millionen francs erworben hat. Zu uz-
nach auf der nächsten Poststation bemerkte ich, daß beym Aufpacken des
Wagens zwar mein koffer eingepackt, dagegen aber eine menge anderer
effekten, z.B. mein mantel, halsshawl und Büchsensack, worin auch mein
Paß war, vergessen worden waren. ohne mantel und mehr noch ohne Paß
konnte ich nicht weiter; zudem waren in dem Sack eine Menge werthvoller
Schriften und Sachen, die ich nicht im Stich lassen konnte; sie noch zu
rechter Zeit in chur nachgeschickt zu erhalten, um mit dem morgigen eil-
wagen, wie ich wollte, über den splügen zu gehen, war unmöglich, so blieb
mir denn nichts Anderes über, als nach rapperswyl zurück zu fahren und
dort den morgigen eilwagen zu erwarten.
Man kann sich denken, wie unangenehm mir dieses war; ich war ganz de-
sperat darüber, besonders da ich hörte, daß übermorgen kein eilwagen über
den splügen sondern über Bellinzona geht, welcher aber erst tags darauf
Abends 11 uhr in mailand ankömmt, so daß ich dadurch 2 tage, nähmlich
den heutigen und den übermorgigen verliere, was mir doppelt deßwegen fa-
tal ist, weil mein urlaub heute eigentlich schon zu ende geht, und ich nicht
gerne den ersten in mailand erhaltenen urlaub überschreiten möchte. Aber
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume I
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- I
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 744
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien