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11710.
Dezember 1840
Also gestern nachts vor lobkowitz’s Abreise waren wir noch wie gewöhn-
lich bey gräfin samoyloff, und dann begleitete ich und der alte monsignore
Porro (der ehemalige carbonari-chef, im Jahre 1821 hier in effigie gehängt,
nun aber amnestirt, und seit 2 Monathen wieder hier) ihn nach Hause; da
wurde dann viel schwadronnirt, Porro von seinen bons principes, seiner
Anhänglichkeit an die regierung und die öffentliche ordnung, und von der
misrepresentation welche seine politische gesinnung durch böswillige ver-
läumder in Wien zu allen Zeiten erfahren hätte, welches allein die schuld
seines unglücks gewesen sey etc., und lobkowitz von seiner liebe für die-
ses land und seinem sehnlichen Wunsche, demselben einmal unmittelbar
nützlich werden zu können etc., denn auch er schwadronnirt ziemlich stark,
und soeben hörte ich, daß man mit seinem langen Aufenthalte hier in Wien
unzufrieden sey und überhaupt mit seinem Benehmen hier und in tyrol, wo
er auch sehr populäre discurse geführt haben soll, und daß dieses der grund
seiner raschen Zurückberufung ist.
[mailand] 10. dezember
mich überfällt zeitweise eine so tiefe entmuthigung, eine so profond ennui
mit meinem Leben, daß ich wirklich oft nicht weiß wo es hinaus soll; es ist
mir das Alles so klein, so einförmig, so jämmerlich, ich komme mir so un-
glücklich vor in solchen Py[g]mäen-verhältnissen zu leben, daß ich weinen
möchte, ich bin so ganz in low spirits; da möchte ich dann hinaus in die Welt,
und das könnte mich vielleicht curiren; das und Thätigkeit; aber wo diese
finden? dann könnte noch Alles gut werden und ich könnte froh und heiter
werden. oh was waren die menschen glücklich, die vor 60 Jahren geboren
sind! und um wie viel glücklicher sind selbst meine contretemporaines, die
in anderen ländern geboren sind, nur ich, nur ich muß hier in dieser Pfütze
von unthätigkeit und dummheit verfaulen! und könnte ich mir nur einmal
raison darüber machen, könnte mich Jemand versichern, daß es mein le-
benlang nicht besser werden wird, dann würde ich prendre mon parti jeter
le bonnet par dessus les moulins und thun was mir einfiele, ein Paar Jahre
hindurch mich in allen möglichen genüssen berauschen und dann mich auf-
hängen, so wäre ich doch wenigstens eine Zeitlang einig mit mir selbst, ruhig
und von jener Zerrissenheit befreyt gewesen, die das unglück meines lebens
ausmacht. und wenn mich ein solcher accès befällt wie z.B. heute, so laufe
ich herum wie ein Wahnsinniger, und mir ist so miserabel zu muthe als wäre
ich seekrank, und ich glaube ich hätte nicht einmal kraft genug mich zu
ärgern, wenn mir Jemand ein Paar Ohrfeigen gäbe; und dann recitire ich
schiller’s Pegasus im Joche und fange dabey an hellraus zu weinen, so daß
ich mich vor mir selbst schäme. Aber fort muß ich, ich muß eine große reise
unternehmen, um mich womöglich zu retrempiren.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume I
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- I
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 744
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien