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120 Tagebücher
[mailand] 27. dezember
gestern war die Appertura des theaters alla scala für die kommende car-
nevals-saison, für mailand der größte tag im Jahr. ungeheures gedränge,
queue an der thüre mehrere stunden vor dem Anfange, eine unzahl leute
auf den corridors, welche im theater keinen Platz fanden, etc. und derglei-
chen specktakel mehr. dann während der vorstellung Pfeifen, Zischen,
schreien, toben, etc. was man nur in einem italiänischen theater in diesem
maaße findet, und zwar vereinigt mit dem feinsten, richtigsten gefühl und
Gehör; Donzelli sang schöner als je und erinnerte mich an die unvergeßli-
chen Zeiten der Malibran in Venedig 1835, wo er mit ihr sang; charmant
aber noch etwas schwach mad. de rieux, eine debutantice aus marseille,
dann die tadolini etc. endlich die cerrito als erste tänzerin.
[mailand] 1. Jänner 1841
gestern Abends beschlossen wir das alte und begannen wir das neue Jahr
mit einem excellenten souper bey samoiloff, wir waren 26 Personen unge-
fähr; das ganze aber schloß mit einer ziemlich lächerlichen Catastrophe,
denn der held des tages, der Adonis der frau vom haus, martini, bekam
Zahnschmerzen, und da entstand dann ein großes remue ménage, sie lief
herum wie eine Wahnsinnige, mit bouillons, Wasser, mastix1 etc., dann
wurde zum dentiste geschickt, der aber nicht kommen wollte, weil er das
fieber hatte, und kurz großes remissori. gegen 3 uhr ging ich weg und ließ
sie Alle noch in großen Ängsten; mich amusirte die Sache sehr; übrigens
fängt dieser salon an, nach und nach ungenießbar zu werden, je mehr sich
diese leidenschaft zu dem martini entwickelt, denn ihre gewohnheit, was
übrigens für eine in derley dingen so vielerfahrene frau sehr sonderbar ist,
daß sie nur mehr Augen für ihn hat, und wir Anderen daher zu nichts als zur
folie seiner größe dienen, was auch abgesehen von dem verletzten amour-
propre eines Jeden, was zwar bey mir gerade nicht stark ist, ziemlich de
mauvais gout ist; zudem ziehen sich unter diesen Umständen immer mehr
italiäner und zwar von allen Arten dahin, u.a. eine menge amnestirter refu-
giés, und da kommen erst ganz merkwürdige Discussionen auf’s Tapet; trotz
meiner innerlichen grundsätze ärgern mich solche doch wenn sie von sol-
chen Personen ausgehen, besonders da sie ohne Ausnahme erbärmlich sind;
italiänern gegenüber fühle ich mich schon des Widerspruch-geistes wegen
immer als Österreicher; überhaupt glaube ich, daß in den Grundsätzen eines
Jeden viel mehr künstliches durch den verkehra mit Anderen erzeugtes,
als durch eigenes nachdenken hervorgebrachtes liegt, so z.B. bin ich wieder
1 harz des Pistazienbaums, als kauharz zur desinfektion von mund und Zähnen verwendet.
a ursprünglich freilassung im text, mit Bleistift eingefügt.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume I
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- I
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 744
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien