Page - 212 - in Der Weg ins Freie
Image of the Page - 212 -
Text of the Page - 212 -
7Kapitel
Langsam stieg Georg aus dem untern Schiffsraum empor, auf schmaler,
teppichbelegter Treppe, zwischen langgedehnten, schiefen Spiegeln; und in
einen langen, dunkelgrünen Plaid gehüllt, der nachschleppte, wandelte er
unter dem Sternenhimmel auf dem menschenleeren Verdeck auf und ab. Am
Steuer, bewegungslos wie immer, stand Labinski, drehte das Rad und hatte
den Blick zum offenen Meer gerichtet. Welche Karriere! dachte Georg. Zuerst
Toter, dann Minister, dann ein kleiner Bub mit einem Muff und heute schon
ein Steuermann. Wenn er wüßte, daß ich auf diesem Schiff bin, so würde er
sicher appellieren. »Geben Sie acht«, sagten hinter Georg die zwei blauen
Mädeln, die er vom Seeufer her kannte; aber schon stürzte er hin, verwickelte
sich in den Plaid und hörte den Flügelschlag weißer Möven über seinem
Haupt. Gleich darauf saß er unten im Salon an der Tafel, die so lang war, daß
die Leute am Ende ganz klein aussahen. Ein Herr neben ihm, der dem alten
Grillparzer ähnlich sah, bemerkte ärgerlich: »Immer hat dieses Schiff
Verspätung, schon längst sollten wir in Boston sein.« Nun bekam Georg große
Angst; denn wenn er beim Aussteigen die drei Partituren im grünen Einband
nicht vorweisen konnte, so wurde er unbedingt wegen Hochverrats verhaftet.
Darum sah ihn auch der Prinz, der den ganzen Tag auf dem Verdeck mit dem
Rad hin und herraste, manchesmal so sonderbar von der Seite an. Und um den
Verdacht noch zu steigern, mußte er an der Tafel in Hemdärmeln dasitzen,
während sämtliche Herren, wie immer auf Schiffen, Generalsuniformen und
alle Damen rote Samttoiletten trugen. »Gleich sind wir in Amerika«, sagte ein
heiserer Steward, der Spargel verteilte, »nur noch eine Station.« Die andern
können ruhig sitzen bleiben, dachte Georg, die haben nichts zu tun, ich aber
muß gleich ins Theater schwimmen. Und in dem großen Spiegel ihm
gegenüber erschien die Küste: lauter Häuser ohne Dächer, die terrassenartig
immer höher hinaufstiegen; und ganz oben in einem weißen Kiosk mit
durchbrochener Steinkuppel, ungeduldig, wartete die Musikkapelle. Die
Glocke auf dem Verdeck ertönte, und Georg stolperte mit seinem grünen Plaid
und zwei Handtaschen die Treppe hinauf zum Garten. Aber man hatte den
unrichtigen hertransportiert; es war nämlich der Stadtpark; auf einer Bank saß
Felician, neben ihm eine alte Dame in einer Mantille, legte die Finger an die
Lippen, pfiff sehr laut, und mit außergewöhnlich tiefer Stimme sagte Felician:
»Kemmelbach – Ybs.« Nein, dachte Georg, solch ein Wort nimmt Felician
nicht in den Mund… rieb sich die Augen und erwachte.
212
back to the
book Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik