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des wildesten Triumphes der Brutalität innerhalb der Chronik der Zeiten; nie
– ich verzeichne dies keineswegs mit Stolz, sondern mit Beschämung – hat
eine Generation einen solchen moralischen Rückfall aus solcher geistigen
Höhe erlitten wie die unsere. In dem einen kleinen Intervall, seit mir der Bart
zu sprossen begann und seit er zu ergrauen beginnt, in diesem einen halben
Jahrhundert hat sich mehr ereignet an radikalen Verwandlungen und
Veränderungen als sonst in zehn Menschengeschlechtern, und jeder von uns
fühlt: zu vieles fast! So verschieden ist mein Heute von jedem meiner
Gestern, meine Aufstiege und meine Abstürze, daß mich manchmal dünkt, ich
hätte nicht bloß eine, sondern mehrere, völlig voneinander verschiedene
Existenzen gelebt. Denn es geschieht mir oft, daß, wenn ich achtlos erwähne:
›Mein Leben‹, ich mich unwillkürlich frage: › Welches Leben?‹ Das vor dem
Weltkriege, das vor dem ersten oder das vor dem zweiten oder das Leben von
heute? Dann wieder ertappe ich mich dabei, daß ich sage: ›Mein Haus‹ und
nicht gleich weiß, welches der einstigen ich meinte, ob das in Bath oder in
Salzburg oder das Elternhaus in Wien. Oder daß ich ›bei uns‹ sage und
erschrocken mich erinnern muß, daß ich für die Menschen meiner Heimat
längst ebensowenig dazugehöre wie für die Engländer oder für die
Amerikaner, dort nicht mehr organisch verbunden und hier wiederum niemals
ganz eingegliedert; die Welt, in der ich aufgewachsen bin, und die von heute
und die zwischen beiden sondern sich immer mehr für mein Gefühl zu völlig
verschiedenen Welten. Jedesmal, wenn ich im Gespräch jüngeren Freunden
Episoden aus der Zeit vor dem ersten Kriege erzähle, merke ich an ihren
erstaunten Fragen, wieviel für sie schon historisch oder unvorstellbar von dem
geworden ist, was für mich noch selbstverständliche Realität bedeutet. Und
ein geheimer Instinkt in mir gibt ihnen recht: zwischen unserem Heute,
unserem Gestern und Vorgestern sind alle Brücken abgebrochen. Ich selbst
kann nicht umhin, mich zu verwundern über die Fülle, die Vielfalt, die wir in
den knappen Raum einer einzigen – freilich höchst unbequemen und
gefährdeten – Existenz gepreßt haben, und schon gar, wenn ich sie mit der
Lebensform meiner Vorfahren vergleiche. Mein Vater, mein Großvater, was
haben sie gesehen? Sie lebten jeder ihr Leben in der Einform. Ein einziges
Leben vom Anfang bis zum Ende, ohne Aufstiege, ohne Stürze, ohne
Erschütterung und Gefahr, ein Leben mit kleinen Spannungen, unmerklichen
Übergängen; in gleichem Rhythmus, gemächlich und still, trug sie die Welle
der Zeit von der Wiege bis zum Grabe. Sie lebten im selben Land, in
derselben Stadt und fast immer sogar im selben Haus; was außen in der Welt
geschah, ereignete sich eigentlich nur in der Zeitung und pochte nicht an ihre
Zimmertür. Irgendein Krieg geschah wohl irgendwo in ihren Tagen, aber doch
nur ein Kriegchen, gemessen an den Dimensionen von heute, und er spielte
sich weit an der Grenze ab, man hörte nicht die Kanonen, und nach einem
halben Jahre war er erloschen, vergessen, ein dürres Blatt Geschichte, und es
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286