Page - 8 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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bezeugen, scheint mir Pflicht, denn – ich wiederhole – jeder war Zeuge dieser
ungeheuren Verwandlungen, jeder war genötigt Zeuge zu sein. Für unsere
Generation gab es kein Entweichen, kein Sich-abseits-Stellen wie in den
früheren; wir waren dank unserer neuen Organisation der Gleichzeitigkeit
ständig einbezogen in die Zeit. Wenn Bomben in Shanghai die Häuser
zerschmetterten, wußten wir es in Europa in unseren Zimmern, ehe die
Verwundeten aus ihren Häusern getragen waren. Was tausend Meilen über
dem Meer sich ereignete, sprang uns leibhaftig im Bilde an. Es gab keinen
Schutz, keine Sicherung gegen das ständige Verständigtwerden und
Mitgezogensein. Es gab kein Land, in das man flüchten, keine Stille, die man
kaufen konnte, immer und überall griff uns die Hand des Schicksals und
zerrte uns zurück in sein unersättliches Spiel.
Ständig mußte man sich Forderungen des Staates unterordnen, der
stupidesten Politik zur Beute hinwerfen, den phantastischsten Veränderungen
anpassen, immer war man an das Gemeinsame gekettet, so erbittert man sich
wehrte; es riß einen mit, unwiderstehlich. Wer immer durch diese Zeit ging
oder vielmehr gejagt und gehetzt wurde – wir haben wenig Atempausen
gekannt –, hat mehr Geschichte miterlebt als irgendeiner seiner Ahnen. Auch
heute stehen wir abermals an einer Wende, an einem Abschluß und einem
neuen Beginn. Ich handle darum durchaus nicht absichtslos, wenn ich diesen
Rückblick auf mein Leben mit einem bestimmten Datum vorläufig enden
lasse. Denn jener Septembertag 1939 zieht den endgültigen Schlußstrich unter
die Epoche, die uns Sechzigjährige geformt und erzogen hat. Aber wenn wir
mit unserem Zeugnis auch nur einen Splitter Wahrheit aus ihrem zerfallenen
Gefüge der nächsten Generation übermitteln, so haben wir nicht ganz
vergebens gewirkt.
Ich bin mir der ungünstigen, aber für unsere Zeit höchst charakteristischen
Umstände bewußt, unter denen ich diese meine Erinnerungen zu gestalten
suche. Ich schreibe sie mitten im Kriege, ich schreibe sie in der Fremde und
ohne den mindesten Gedächtnisbehelf. Kein Exemplar meiner Bücher, keine
Aufzeichnungen, keine Freundesbriefe sind mir in meinem Hotelzimmer zur
Hand. Nirgends kann ich mir Auskunft holen, denn in der ganzen Welt ist die
Post von Land zu Land abgerissen oder durch die Zensur gehemmt. Wir leben
jeder so abgesondert wie vor Hunderten Jahren, ehe Dampfschiffe und Bahn
und Flugzeuge und Post erfunden waren. Von all meiner Vergangenheit habe
ich also nichts mit mir, als was ich hinter der Stirne trage. Alles andere ist für
mich in diesem Augenblick unerreichbar oder verloren. Aber die gute Kunst,
Verlorenem nicht nachzutrauern, hat unsere Generation gründlich gelernt, und
vielleicht wird der Verlust an Dokumentierung und Detail diesem meinem
Buche sogar zum Gewinn. Denn ich betrachte unser Gedächtnis nicht als ein
das eine bloß zufällig behaltendes und das andere zufällig verlierendes
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286