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die letzten grün umwaldeten Ausläufer der Alpen hinauf; man fühlte kaum,
wo die Natur, wo die Stadt begann, eines löste sich ins andere ohne
Widerstand und Widerspruch. Innen wiederum spürte man, daß wie ein
Baum, der Ring an Ring ansetzt, die Stadt gewachsen war; und statt der alten
Festungswälle umschloß den innersten, den kostbarsten Kern die Ringstraße
mit ihren festlichen Häusern. Innen sprachen die alten Paläste des Hofs und
des Adels versteinerte Geschichte; hier bei den Lichnowskys hatte Beethoven
gespielt, hier bei den Esterházys war Haydn zu Gast gewesen, da in der alten
Universität war Haydns ›Schöpfung‹ zum erstenmal erklungen, die Hofburg
hatte Generationen von Kaisern, Schönbrunn Napoleon gesehen, im
Stefansdom hatten die vereinigten Fürsten der Christenheit im Dankgebet für
die Errettung vor den Türken gekniet, die Universität hatte unzählige der
Leuchten der Wissenschaft in ihren Mauern gesehen. Dazwischen erhob sich
stolz und prunkvoll mit blinkenden Avenuen und blitzenden Geschäften die
neue Architektur. Aber das Alte haderte hier so wenig mit dem Neuen wie der
gehämmerte Stein mit der unberührten Natur. Es war wundervoll hier zu
leben, in dieser Stadt, die gastfrei alles Fremde aufnahm und gerne sich gab,
es war in ihrer leichten, wie in Paris mit Heiterkeit beschwingten Luft
natürlicher das Leben zu genießen. Wien war, man weiß es, eine
genießerische Stadt, aber was bedeutet Kultur anderes, als der groben Materie
des Lebens ihr Feinstes, ihr Zartestes, ihr Subtilstes durch Kunst und Liebe zu
entschmeicheln? Feinschmeckerisch im kulinarischen Sinne, sehr um einen
guten Wein, ein herbes frisches Bier, üppige Mehlspeisen und Torten
bekümmert, war man in dieser Stadt anspruchsvoll auch in subtileren
Genüssen. Musik machen, tanzen, Theater spielen, konversieren, sich
geschmackvoll und gefällig benehmen wurde hier gepflegt als eine besondere
Kunst. Nicht das Militärische, nicht das Politische, nicht das Kommerzielle
hatte im Leben des einzelnen wie in dem der Gesamtheit das Übergewicht;
der erste Blick eines Wiener Durchschnittsbürgers in die Zeitung galt
allmorgendlich nicht den Diskussionen im Parlament oder den
Weltgeschehnissen, sondern dem Repertoire des Theaters, das eine für andere
Städte kaum begreifliche Wichtigkeit im öffentlichen Leben einnahm. Denn
das kaiserliche Theater, das Burgtheater war für den Wiener, für den
Österreicher mehr als eine bloße Bühne, auf der Schauspieler Theaterstücke
spielten; es war der Mikrokosmos, der den Makrokosmos spiegelte, der bunte
Widerschein, in dem sich die Gesellschaft selbst betrachtete, der einzig
richtige ›cortigiano‹ des guten Geschmacks. An dem Hofschauspieler sah der
Zuschauer vorbildlich, wie man sich kleidete, wie man in ein Zimmer trat,
wie man konversierte, welche Worte man als Mann von gutem Geschmack
gebrauchen durfte, und welche man zu vermeiden hatte; die Bühne war statt
einer bloßen Stätte der Unterhaltung ein gesprochener und plastischer
Leitfaden des guten Benehmens, der richtigen Aussprache, und ein Nimbus
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286