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Luft und Bewegung brauchen. Zehn Minuten Pause auf dem kalten, engen
Gang galten für ausreichend innerhalb von vier oder fünf Stunden reglosen
Hockens; zweimal in der Woche wurden wir in den Turnsaal geführt, um dort
bei sorglich geschlossenen Fenstern auf dem Bretterboden, der bei jedem
Schritt Staub meterhoch aufwölkte, sinnlos herumzutappen; damit war der
Hygiene Genüge geleistet, der Staat hatte an uns seine ›Pflicht‹ erfüllt für die
›mens sana in corpore sano‹. Noch nach Jahren, wenn ich an diesem trüben,
trostlosen Hause vorüberging, spürte ich ein Gefühl der Entlastung, daß ich
diesen Kerker unserer Jugend nicht mehr betreten mußte, und als anläßlich
des fünfzigjährigen Bestehens dieser erlauchten Anstalt eine Feier veranstaltet
und ich als ehemaliger Glanzschüler aufgefordert wurde, die Festrede vor
Minister und Bürgermeister zu halten, lehnte ich höflich ab. Ich hatte dieser
Schule nicht dankbar zu sein, und jedes Wort dieser Art wäre zur Lüge
geworden.
Auch unsere Lehrer hatten an der Trostlosigkeit jenes Betriebes keine
Schuld. Sie waren weder gut noch böse, keine Tyrannen und andererseits
keine hilfreichen Kameraden, sondern arme Teufel, die sklavisch an das
Schema, an den behördlich vorgeschriebenen Lehrplan gebunden, ihr
›Pensum‹ zu erledigen hatten wie wir das unsere und – das fühlten wir
deutlich – ebenso glücklich waren wie wir selbst, wenn mittags die
Schulglocke scholl, die ihnen und uns die Freiheit gab. Sie liebten uns nicht,
sie haßten uns nicht, und warum auch, denn sie wußten von uns nichts; noch
nach ein paar Jahren kannten sie die wenigsten von uns mit Namen, nichts
anderes hatte im Sinn der damaligen Lehrmethode sie zu bekümmern als
festzustellen, wie viele Fehler ›der Schüler‹ in der letzten Aufgabe gemacht
hatte. Sie saßen oben auf dem Katheder und wir unten, sie fragten, und wir
mußten antworten, sonst gab es zwischen uns keinen Zusammenhang. Denn
zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Katheder und Schulbank, dem
sichtbaren Oben und sichtbaren Unten stand die unsichtbare Barriere der
›Autorität‹, die jeden Kontakt verhinderte. Daß ein Lehrer den Schüler als ein
Individuum zu betrachten hatte, das besonderes Eingehen auf seine
besonderen Eigenschaften forderte, oder daß gar, wie es heute
selbstverständlich ist, er ›reports‹, also beobachtende Beschreibungen über
ihn zu verfassen hatte, würde damals seine Befugnisse wie seine Befähigung
weit überschritten, anderseits ein privates Gespräch wieder seine Autorität
gemindert haben, weil dies uns als ›Schüler‹ zu sehr auf eine Ebene mit ihm,
dem ›Vorgesetzten‹ gestellt hätte. Nichts ist mir charakteristischer für die
totale Zusammenhanglosigkeit, die geistig und seelisch zwischen uns und
unseren Lehrern bestand, als daß ich alle ihre Namen und Gesichter vergessen
habe. Mit photographischer Schärfe bewahrt mein Gedächtnis noch das Bild
des Katheders und des Klassenbuchs, in das wir immer zu schielen suchten,
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286