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weil es unsere Noten enthielt; ich sehe das kleine rote Notizbuch, in dem sie
die Klassifizierungen zunächst vermerkten, und den kurzen schwarzen
Bleistift, der die Ziffern eintrug, ich sehe meine eigenen Hefte, übersät mit
den Korrekturen des Lehrers in roter Tinte, aber ich sehe kein einziges
Gesicht von all ihnen mehr vor mir – vielleicht weil wir immer mit geduckten
oder gleichgültigen Augen vor ihnen gestanden.
Dieses Mißvergnügen an der Schule war nicht etwa eine persönliche
Einstellung; ich kann mich an keinen meiner Kameraden erinnern, der nicht
mit Widerwillen gespürt hätte, daß unsere besten Interessen und Absichten in
dieser Tretmühle gehemmt, gelangweilt und unterdrückt wurden. Aber viel
später erst wurde mir bewußt, daß diese lieblose und seelenlose Methode
unserer Jugenderziehung nicht etwa der Nachlässigkeit der staatlichen
Instanzen zur Last fiel, sondern daß sich darin eine bestimmte, allerdings
sogfältig geheimgehaltene Absicht aussprach. Die Welt vor uns oder über uns,
die alle ihre Gedanken einzig auf den Fetisch der Sicherheit einstellte, liebte
die Jugend nicht oder vielmehr: sie hatte ein ständiges Mißtrauen gegen sie.
Eitel auf ihren systematischen ›Fortschritt‹, auf ihre Ordnung, proklamierte
die bürgerliche Gesellschaft Mäßigkeit und Gemächlichkeit in allen
Lebensformen als die einzig wirksame Tugend des Menschen; jede Eile, uns
vorwärts zu führen, sollte vermieden werden. Österreich war ein alter Staat,
von einem greisen Kaiser beherrscht, von alten Ministern regiert, ein Staat,
der ohne Ambition einzig hoffte, sich durch Abwehr aller radikalen
Veränderungen im europäischen Raume unversehrt zu erhalten; junge
Menschen, die ja aus Instinkt immer schnelle und radikale Veränderungen
wollen, galten deshalb als ein bedenkliches Element, das möglichst lange
ausgeschaltet oder niedergehalten werden mußte. So hatte man keinen Anlaß,
uns die Schuljahre angenehm zu machen; wir sollten jede Form des Aufstiegs
erst durch geduldiges Warten uns verdienen. Durch dieses ständige
Zurückschieben bekamen die Altersstufen einen ganz anderen Wert wie heute.
Ein achtzehnjähriger Gymnasiast wurde wie ein Kind behandelt, wurde
bestraft, wenn er einmal mit einer Zigarette ertappt wurde, hatte gehorsam die
Hand zu erheben, wenn er die Schulbank wegen eines natürlichen
Bedürfnisses verlassen wollte; aber auch ein Mann von dreißig Jahren wurde
noch als unflügges Wesen betrachtet, und selbst der Vierzigjährige noch nicht
für eine verantwortliche Stellung als reif erachtet. Als einmal ein erstaunlicher
Ausnahmefall sich ereignete und Gustav Mahler mit achtunddreißig Jahren
zum Direktor der Hofoper ernannt wurde, ging ein erschrecktes Raunen und
Staunen durch ganz Wien, daß man einem ›so jungen Menschen‹ das erste
Kunstinstitut anvertraut hatte (man vergaß vollkommen, daß Mozart mit
sechsunddreißig, Schubert mit einunddreißig Jahren schon ihre Lebenswerke
vollendet hatten). Dieses Mißtrauen, daß jeder junge Mensch ›nicht ganz
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286