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verläßlich‹ sei, ging damals durch alle Kreise. Mein Vater hätte nie einen
jungen Menschen in seinem Geschäft empfangen, und wer das Unglück hatte,
besonders jung auszusehen, hatte überall Mißtrauen zu überwinden. So
geschah das heute fast Unbegreifliche, daß Jugend zur Hemmung in jeder
Karriere wurde und nur Alter zum Vorzug. Während heute in unserer
vollkommen veränderten Zeit Vierzigjährige alles tun, um wie Dreißigjährige
auszusehen und Sechzigjährige wie Vierzigjährige, während heute
Jugendlichkeit, Energie, Tatkraft und Selbstvertrauen fördert und empfiehlt,
mußte in jenem Zeitalter der Sicherheit jeder, der vorwärts wollte, alle
denkbare Maskierung versuchen, um älter zu erscheinen. Die Zeitungen
empfahlen Mittel, um den Bartwuchs zu beschleunigen, vierundzwanzig- oder
fünfundzwanzigjährige junge Ärzte, die eben das medizinische Examen
absolviert hatten, trugen mächtige Bärte und setzten sich, auch wenn es ihre
Augen gar nicht nötig hatten, goldene Brillen auf, nur damit sie bei ihren
ersten Patienten den Eindruck der ›Erfahrenheit‹ erwecken könnten. Man
legte sich lange schwarze Gehröcke zu und einen gemächlichen Gang und
wenn möglich ein leichtes Embonpoint, um diese erstrebenswerte
Gesetztheit zu verkörpern, und wer ehrgeizig war, mühte sich, dem der
Unsolidität verdächtigen Zeitalter der Jugend wenigstens äußerlich Absage zu
leisten; schon in der sechsten und siebten Schulklasse weigerten wir uns,
Schultaschen zu tragen, um nicht mehr als Gymnasiasten erkenntlich zu sein,
und benützten statt dessen Aktenmappen. Alles, was uns heute als
beneidenswerter Besitz erscheint, die Frische, das Selbstbewußtsein, die
Verwegenheit, die Neugier, die Lebenslust der Jugend, galt jener Zeit, die nur
Sinn für das ›Solide‹ hatte, als verdächtig.
Einzig aus dieser sonderbaren Einstellung ist es zu verstehen, daß der Staat
die Schule als Instrument zur Aufrechterhaltung seiner Autorität ausbeutete.
Wir sollten vor allem erzogen werden, überall das Bestehende als das
Vollkommene zu respektieren, die Meinung des Lehrers als unfehlbar, das
Wort des Vaters als unwidersprechlich, die Einrichtungen des Staates als die
absolut und in alle Ewigkeit gültigen. Ein zweiter kardinaler Grundsatz jener
Pädagogik, den man auch innerhalb der Familie handhabte, ging dahin, daß
junge Leute es nicht zu bequem haben sollten. Ehe man ihnen irgendwelche
Rechte zubilligte, sollten sie lernen, daß sie Pflichten hatten und vor allem die
Pflicht vollkommener Fügsamkeit. Von Anfang an sollte uns eingeprägt
werden, daß wir, die wir im Leben noch nichts geleistet hatten und keinerlei
Erfahrung besaßen, einzig dankbar zu sein hatten für alles, was man uns
gewährte, und keinen Anspruch, etwas zu fragen oder zu fordern. Von
frühester Kindheit an wurde in meiner Zeit diese stupide Methode der
Einschüchterung geübt. Dienstmädchen und dumme Mütter erschreckten
schon dreijährige und vierjährige Kinder, sie würden den ›Polizeimann‹
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286