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schlechteste meines Lebens.
Bis zum vierzehnten oder fünfzehnten Jahre fanden wir uns mit der Schule
noch redlich zurecht. Wir spaßten über die Lehrer, wir lernten mit kalter
Neugier die Lektionen. Dann aber kam die Stunde, wo die Schule uns nur
mehr langweilte und störte. Ein merkwürdiges Phänomen hatte sich in aller
Stille ereignet: wir, die wir als zehnjährige Buben ins Gymnasium eingetreten
waren, hatten bereits in den ersten vier von unseren acht Jahren geistig die
Schule überholt. Wir fühlten instinktiv, daß wir nichts Wesentliches mehr von
ihr zu lernen hatten und in manchem der Gegenstände, die uns interessierten,
sogar mehr wußten als unsere armen Lehrer, die seit ihrer Studienzeit aus
eigenem Interesse nie mehr ein Buch aufgeschlagen. Auch machte sich ein
anderer Gegensatz von Tag zu Tag mehr fühlbar: auf den Bänken, wo
wir eigentlich nur mehr mit unseren Hosen saßen, hörten wir nichts Neues
oder nichts, das uns wissenswert schien, und außen war eine Stadt voll
tausendfältiger Anregungen, eine Stadt mit Theatern, Museen,
Buchhandlungen, Universität, Musik, wo jeder Tag andere Überraschungen
brachte. So warf sich unser zurückgestauter Wissensdurst, die geistige, die
künstlerische, die genießerische Neugierde, die in der Schule keinerlei
Nahrung fand, leidenschaftlich all dem entgegen, was außerhalb der Schule
geschah. Erst waren es nur zwei oder drei unter uns, die solche
künstlerischen, literarischen, musikalischen Interessen in sich entdeckten,
dann ein Dutzend und schließlich beinahe alle.
Denn Begeisterung ist bei jungen Menschen eine Art Infektionsphänomen.
Sie überträgt sich innerhalb einer Schulklasse von einem auf den andern wie
Masern oder Scharlach, und indem die Neophyten mit kindlichem, eitlem
Ehrgeiz sich möglichst rasch in ihrem Wissen zu überbieten suchen, treiben
sie einander weiter. Mehr oder minder ist es darum eigentlich nur Zufall,
welche Richtung diese Leidenschaft nimmt; findet sich in einer Klasse ein
Briefmarkensammler, so wird er bald ein Dutzend zu gleichen Narren
machen, wenn drei für Tänzerinnen schwärmen, werden auch die andern
täglich vor der Bühnentür der Oper stehen. Nach der unseren kam drei Jahre
später eine Schulklasse, die ganz vom Fußball besessen war, und vor uns war
eine, die für Sozialismus oder Tolstoi sich begeisterte. Daß ich zufällig in
einen Jahrgang für die Kunst fanatisierter Kameraden geriet, ist vielleicht für
meinen ganzen Lebensgang entscheidend gewesen.
An und für sich war diese Begeisterung für Theater, Literatur und Kunst
eine ganz natürliche in Wien; die Zeitung gab in Wien allen kulturellen
Geschehnissen besonderen Raum, rechts und links hörte man, wo immer man
ging, bei den Erwachsenen Diskussionen über die Oper oder das Burgtheater,
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286