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in allen Papiergeschäften standen in den Auslagen die Bilder der großen
Schauspieler; noch galt Sport als eine brutale Angelegenheit, deren ein
Gymnasiast sich eher zu schämen hatte, und der Kinematograph mit seinen
Massenidealen war noch nicht erfunden. Auch zu Hause hatte man keinen
Widerstand zu befürchten; Theater und Literatur zählten unter die
›unschuldigen‹ Passionen im Gegensatz zu Kartenspiel oder
Mädchenfreundschaften. Schließlich hatte mein Vater, wie alle Wiener Väter,
in seiner Jugend ebenso für das Theater geschwärmt und mit ähnlicher
Begeisterung der Lohengrinaufführung unter Richard Wagner beigewohnt wie
wir den Premieren von Richard Strauss und Gerhart Hauptmann. Denn daß
wir Gymnasiasten uns zu jeder Premiere drängten, war selbstverständlich; wie
hätte man sich vor den glücklicheren Kollegen geschämt, wenn man nicht am
nächsten Morgen in der Schule hätte jedes Detail berichten können? Wären
unsere Lehrer nicht völlig gleichgültig gewesen, so hätte ihnen auffallen
müssen, daß an jedem Nachmittag vor einer großen Premiere – für die wir uns
schon um drei Uhr anstellen mußten, um die einzig zugänglichen Stehplätze
zu bekommen – zwei Drittel der Schüler auf mystische Weise krank
geworden waren. Bei strenger Aufmerksamkeit hätten sie ebenso entdecken
müssen, daß in dem Umschlag unserer lateinischen Grammatiken die
Gedichte von Rilke steckten und wir unsere Mathematikhefte verwendeten,
um die schönsten Gedichte aus geliehenen Büchern uns abzuschreiben.
Täglich erfanden wir neue Techniken, um die langweiligen Schulstunden für
unsere Lektüre auszunutzen; während der Lehrer über Schillers ›Naive und
sentimentale Dichtung‹ seinen abgenutzten Vortrag hielt, lasen wir unter der
Bank Nietzsche und Strindberg, deren Namen der brave alte Mann nie
vernommen. Wie ein Fieber war es über uns gekommen, alles zu wissen, alles
zu kennen, was sich auf allen Gebieten der Kunst, der Wissenschaft ereignete;
wir drängten uns nachmittags zwischen die Studenten der Universität, um die
Vorlesungen zu hören, wir besuchten alle Kunstausstellungen, wir gingen in
die Hörsäle der Anatomie, um Sektionen zuzusehen. An allem und jedem
schnupperten wir mit neugierigen Nüstern. Wir schlichen uns in die Proben
der Philharmoniker, wir stöberten bei den Antiquaren, wir revidierten täglich
die Auslagen der Buchhändler, um sofort zu wissen, was seit gestern neu
erschienen war. Und vor allem, wir lasen, wir lasen alles, was uns zu Händen
kam. Aus jeder öffentlichen Bibliothek holten wir uns Bücher, wir liehen
einander gegenseitig, was wir auftreiben konnten. Aber unsere beste
Bildungsstätte für alles Neue blieb das Kaffeehaus.
Um dies zu verstehen, muß man wissen, daß das Wiener Kaffeehaus eine
Institution besonderer Art darstellt, die mit keiner ähnlichen der Welt zu
vergleichen ist. Es ist eigentlich eine Art demokratischer, jedem für eine
billige Schale Kaffee zugänglicher Klub, wo jeder Gast für diesen kleinen
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286