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Obolus stundenlang sitzen, diskutieren, schreiben, Karten spielen, seine Post
empfangen und vor allem eine unbegrenzte Zahl von Zeitungen und
Zeitschriften konsumieren kann. In einem besseren Wiener Kaffeehaus lagen
alle Wiener Zeitungen auf und nicht nur die Wiener, sondern die des ganzen
Deutschen Reiches und die französischen und englischen und italienischen
und amerikanischen, dazu sämtliche wichtigen literarischen und
künstlerischen Revuen der Welt, der ›Mercure de France‹ nicht minder als die
›Neue Rundschau‹, der ›Studio‹ und das ›Burlington Magazine‹. So wußten
wir alles, was in der Welt vorging, aus erster Hand, wir erfuhren von jedem
Buch, das erschien, von jeder Aufführung, wo immer sie stattfand, und
verglichen in allenZeitungen die Kritiken; nichts hat vielleicht so viel zur
intellektuellen Beweglichkeit und internationalen Orientierung des
Österreichers beigetragen, als daß er im Kaffeehaus sich über alle Vorgänge
der Welt so umfassend orientieren und sie zugleich im freundschaftlichen
Kreise diskutieren konnte. Täglich saßen wir dort stundenlang, und nichts
entging uns. Denn wir verfolgten dank der Kollektivität unserer Interessen
den orbis pictus der künstlerischen Geschehnisse nicht mit zwei, sondern mit
zwanzig und vierzig Augen; was der eine übersah, bemerkte für ihn der
andere, und da wir uns kindisch protzig mit einem fast sportlichen Ehrgeiz
unablässig in unserem Wissen des Neuesten und Allerneuesten überbieten
wollten, so befanden wir uns eigentlich in einer Art ständiger Eifersucht auf
Sensationen. Wenn wir zum Beispiel den damals noch verfemten Nietzsche
diskutierten, erwähnte plötzlich einer von uns mit gespielter Überlegenheit:
»Aber in der Idee des Egotismus ist ihm doch Kierkegaard überlegen«, und
sofort wurden wir unruhig. »Wer ist Kierkegaard, von dem X. weiß und wir
nicht?« Am nächsten Tag stürmten wir in die Bibliothek, die Bücher dieses
verschollenen dänischen Philosophen aufzutreiben, denn etwas Fremdes nicht
zu kennen, das ein anderer kannte, empfanden wir als Herabsetzung; gerade
das Letzte, das Neueste, das Extravaganteste, das Ungewöhnliche, das noch
niemand – und vor allem nicht die offizielle Literaturkritik unserer würdigen
Tagesblätter – breitgetreten hatte, das Entdecken und Voraussein war unsere
Leidenschaft (der ich übrigens persönlich noch viele Jahre gefrönt habe). Just
was noch nicht allgemein anerkannt war zu kennen, das schwer Zugängliche,
das Verstiegene, das Neuartige und Radikale provozierte unsere besondere
Liebe; nichts war darum so verborgen, so abseitig, daß es unsere kollektive,
sich gierig überbietende Neugier nicht aus seinem Versteck
hervorholte. Stefan George oder Rilke zum Beispiel waren in unserer
Gymnasialzeit im ganzen in Auflagen von zweihundert oder dreihundert
Exemplaren erschienen, von denen höchstens drei oder vier den Weg nach
Wien gefunden hatten; kein Buchhändler hielt sie in seinem Lager, keiner der
offiziellen Kritiker hatte jemals Rilkes Namen erwähnt. Aber unser Rudel
kannte durch ein Mirakel des Willens jeden Vers und jede Zeile. Wir
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286