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italienischem Wohllaut erhob, kamen die Gedichte, deren jedes einzelne für
uns ein Ereignis war, und die ich heute noch nach Jahrzehnten Zeile für Zeile
auswendig weiß, kamen die kleinen Dramen und jene Aufsätze, die Reichtum
des Wissens, fehllosen Kunstverstand, Weite des Weltblicks magisch in dem
wunderbar ausgesparten Raum von ein paar Dutzend Seiten
zusammendrängten: alles, was dieser Gymnasiast, dieser Universitätsstudent
schrieb, war wie Kristall, von innen her durchleuchtet, dunkel und glühend
zugleich. Der Vers, die Prosa schmiegten sich wie duftendes Wachs vom
Hymettos in seine Hände, immer hatte durch ein unwiederholbares Wunder
jede Dichtung ihr richtiges Maß, nie ein Zuwenig, nie ein Zuviel, immer
spürte man, daß ein Unbewußtes, ein Unbegreifliches geheimnisvoll ihn
lenken mußte auf diesen Wegen ins bisher Unbetretene.
Wie ein solches Phänomen uns, die wir uns erzogen hatten, Werte zu
spüren, faszinierte, vermag ich kaum wiederzugeben. Denn was kann einer
jungen Generation Berauschenderes geschehen, als neben sich, unter sich den
geborenen, den reinen, den sublimen Dichter leibhaft nahe zu wissen, ihn, den
man sich immer nur in den legendären Formen Hölderlins und Keats’ und
Leopardis imaginierte, unerreichbar und halb schon Traum und Vision?
Deshalb erinnere ich mich auch so deutlich an den Tag, da ich Hofmannsthal
zum erstenmal in persona sah. Ich war sechzehn Jahre alt, und da wir alles,
was dieser unser idealer Mentor tat, geradezu mit Gier verfolgten, erregte
mich eine kleine versteckte Notiz in der Zeitung außerordentlich, daß in dem
›Wissenschaftlichen Klub‹ ein Vortrag von ihm über Goethe angekündigt sei
(unvorstellbar für uns, daß ein solcher Genius in einem so bescheidenen
Rahmen sprach; wir hätten in unserer gymnasiastischen Anbetung erwartet,
der größte Saal müsse vollgedrängt sein, wenn ein Hofmannsthal seine
Gegenwart öffentlich gewährte). Aber bei diesem Anlaß gewahrte ich
wiederum, wie sehr wir kleinen Gymnasiasten in unserer Wertung, in unserem
– nicht nur hier – als richtig erwiesenen Instinkt für das Überdauernde dem
großen Publikum und der offiziellen Kritik schon voraus waren; etwa zehn bis
zwölf Dutzend Zuhörer hatten sich im ganzen in dem engen Saal
zusammengefunden: es wäre also nicht notwendig gewesen, daß ich in meiner
Ungeduld schon eine halbe Stunde zu früh mich aufmachte, um mir einen
Platz zu sichern. Wir warteten einige Zeit, dann ging plötzlich ein schlanker,
an sich unauffälliger junger Mann durch unsere Reihen auf das Pult zu und
begann so unvermittelt, daß ich kaum Zeit hatte, ihn richtig zu betrachten.
Hofmannsthal sah mit seinem weichen, nicht ganz ausgeformten
Schnurrbärtchen und seiner elastischen Figur noch jünger aus, als ich erwartet
hatte. Sein scharfprofiliertes, etwas italienisch-dunkles Gesicht schien nervös
gespannt, und zu diesem Eindruck trug die Unruhe seiner sehr dunklen,
samtigen, aber stark kurzsichtigen Augen noch bei, er warf sich gleichsam mit
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286