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einem einzigen Ruck in die Rede hinein wie ein Schwimmer in die vertraute
Flut, und je weiter er sprach, desto freier wurden seine Gesten, desto sicherer
seine Haltung; kaum war er im geistigen Element, so überkam ihn (dies
bemerkte ich später auch oft im privaten Gespräch) aus einer anfänglichen
Befangenheit eine wunderbare Leichtigkeit und Beschwingtheit wie immer
den inspirierten Menschen. Nur bei den ersten Sätzen bemerkte ich noch, daß
seine Stimme unschön war, manchmal sehr nahe dem Falsett und sich leicht
überkippend, aber schon trug die Rede uns so hoch und frei empor, daß wir
nicht mehr die Stimme und kaum sein Gesicht mehr wahrnahmen. Er sprach
ohne Manuskript, ohne Notizen, vielleicht sogar ohne genaue Vorbereitung,
aber jeder Satz hatte aus dem zauberhaften Formgefühl seiner Natur
vollendete Rundung. Blendend entfalteten sich die verwegensten Antithesen,
um sich dann in klaren und doch überraschenden Formulierungen zu lösen.
Bezwingend hatte man das Gefühl, daß dies Dargebotene nur zufällig
Hingestreutes sei einer viel größeren Fülle, daß er, beschwingt wie er war und
aufgehoben in die obere Sphäre, noch Stunden und Stunden so weitersprechen
könnte, ohne sich zu verarmen und sein Niveau zu vermindern. Auch im
privaten Gespräch habe ich in späteren Jahren die Zaubergewalt dieses
›Erfinders rollenden Gesangs und sprühend gewandter Zwiegespräche‹, wie
Stefan George ihn rühmte, empfunden; er war unruhig, farbig, sensibel, jedem
Druck der Luft ausgesetzt, oft mürrisch und nervös im privaten Umgang, und
ihm nahezukommen, war nicht leicht. Im Augenblick aber, da ein Problem
ihn interessierte, war er wie eine Zündung; in einem einzigen raketenhaft
blitzenden, glühenden Flug riß er dann jede Diskussion in dieihm eigene und
nur ihm ganz erreichbare Sphäre empor. Außer manchmal mit Valéry, der
gemessener, kristallinischer dachte, und dem impetuosen Keyserling habe ich
nie ein Gespräch ähnlich geistigen Niveaus erlebt wie mit ihm. Alles war in
diesen wahrhaft inspirierten Augenblicken seinem dämonisch wachen
Gedächtnis gegenständlich nah, jedes Buch, das er gelesen, jedes Bild, das er
gesehen, jede Landschaft; eine Metapher band sich der andern so natürlich
wie Hand mit Hand, Perspektiven hoben sich wie plötzliche Kulissen hinter
dem schon abgeschlossen vermeinten Horizont – in jener Vorlesung zum
erstenmal und später bei persönlichen Begegnungen habe ich wahrhaft den
›flatus‹, den belebenden, begeisternden Anhauch des Inkommensurablen, des
mit der Vernunft nicht voll Erfaßbaren bei ihm gefühlt.
In einem gewissen Sinn hat Hofmannsthal nie mehr das einmalige Wunder
überboten, das er von seinem sechzehnten bis etwa zum vierundzwanzigsten
Jahre gewesen. Ich bewundere nicht minder manche seiner späteren Werke,
die herrlichen Aufsätze, das Fragment des ›Andreas‹, diesen Torso des
vielleicht schönsten Romans deutscher Sprache, und einzelne Partien seiner
Dramen; aber mit seiner stärkeren Bindung an das reale Theater und die
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286