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Interessen seiner Zeit, mit der deutlichen Bewußtheit und Ambitioniertheit
seiner Pläne ist etwas von dem Traumwandlerisch-Treffenden, von der reinen
Inspiriertheit jener ersten knabenhaften Dichtungen und damit auch von dem
Rausch und der Ekstase unserer eigenen Jugend dahingegangen. Mit dem
magischen Wissen, das Unmündigen zu eigen ist, haben wir vorausgewußt,
daß dies Wunder unserer Jugend einmalig sei und ohne Wiederkehr in
unserem Leben.
Balzac hat in unvergleichlicher Weise dargestellt, wie das Beispiel
Napoleons eine ganze Generation in Frankreich elektrisiert hat. Der
blendende Aufstieg eines kleinen Leutnants Bonaparte zum Kaiser der Welt
bedeutete für ihn nicht nur den Triumph einer Person, sondern einen Sieg der
Idee der Jugend. Daß man nicht als Prinz oder Fürst geboren sein müsse, um
Macht früh zu erringen, daß man aus einer beliebigen kleinen und sogar
armen Familie stammen und doch mit vierundzwanzig Jahren General, mit
dreißig Jahren Gebieter Frankreichs und bald der ganzen Welt sein konnte,
dieser einmalige Erfolg trieb Hunderte aus ihren kleinen Berufen und
Provinzstädten – der Leutnant Bonaparte erhitzte einer ganzen Jugend die
Köpfe. Er trieb sie in einen gesteigerten Ehrgeiz; er schuf die Generäle der
großen Armee und die Helden und Arrivisten der Comédie Humane. Immer
ermutigt ein einzelner junger Mensch, der auf welchem Gebiet immer im
ersten Schwung das bisher Unerreichbare erreicht, durch die bloße Tatsache
seines Erfolgs alle Jugend um sich und hinter sich. In diesem Sinne
bedeuteten Hofmannsthal und Rilke für uns Jüngere einen ungemeinen
Antrieb für unsere noch unausgegorenen Energien. Ohne zu hoffen, daß je
einer von uns das Wunder Hofmannsthals wiederholen könnte, wurden wir
doch bestärkt durch seine rein körperliche Existenz. Sie bewies geradezu
optisch, daß auch in unserer Zeit, in unserer Stadt, in unserem Milieu der
Dichter möglich war. Sein Vater, ein Bankdirektor, stammte schließlich aus
der gleichen jüdisch-bürgerlichen Schicht wie wir andern, der Genius war in
einem ähnlichen Hause wie wir mit gleichen Möbeln und gleicher
Standesmoral aufgewachsen, in ein ebenso steriles Gymnasium gegangen, er
hatte aus denselben Lehrbüchern gelernt und war auf denselben hölzernen
Bänken acht Jahre gesessen, ähnlich ungeduldig wie wir, ähnlich passioniert
für alle geistigen Werte; und siehe, es war ihm gelungen, noch während er
seine Hosen auf diesen Bänken wetzen und in dem Turnsaal herumtrappen
mußte, den Raum und seine Enge, die Stadt und die Familie überwindend
durch diesen Aufschwung ins Grenzenlose. Durch Hofmannsthal war uns
gewissermaßen ad oculos demonstriert, daß es prinzipiell möglich sei, auch in
unseren Jahren und selbst in der Kerkeratmosphäre eines österreichischen
Gymnasiums Dichterisches, ja dichterisch Vollendetes zu schaffen. Es war
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286