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möglich sogar – ungeheure Verlockung für ein knabenhaftes Gemüt! –, schon
gedruckt, schon gerühmt, schon berühmt zu sein, während man zu Hause und
in der Schule noch als halbwüchsiges, unbeträchtliches Wesen galt.
Rilke wiederum bedeutete uns eine Ermutigung anderer Art, die jene durch
Hofmannsthal in einer beruhigenden Weise ergänzte. Denn mit Hofmannsthal
zu rivalisieren, wäre selbst dem Verwegensten unter uns blasphemisch
erschienen. Wir wußten: er war ein einmaliges Wunder frühreifer Vollendung,
das sich nicht wiederholen konnte, und wenn wir Sechzehnjährigen unsere
Verse mit jenen hochberühmten verglichen, die er im gleichen Alter
geschrieben, erschraken wir vor Scham; ebenso fühlten wir uns in unserem
Wissen gedemütigt vor dem Adlerflug, mit dem er noch im Gymnasium den
geistigen Weltraum durchmessen. Rilke dagegen hatte zwar gleichfalls früh,
mit siebzehn oder achtzehn Jahren, begonnen, Verse zu schreiben und zu
veröffentlichen. Aber diese frühen Verse Rilkes waren im Vergleich zu jenen
Hofmannsthals und sogar im absoluten Sinne unreife, kindliche und naive
Verse, in denen man nur mit Nachsicht ein paar dünne Goldspuren Talent
wahrnehmen konnte. Erst nach und nach, im zweiundzwanzigsten, im
dreiundzwanzigsten Jahr hatte dieser wundervolle, von uns maßlos geliebte
Dichter sich persönlich zu gestalten begonnen; das bedeutete für uns schon
einen ungeheuren Trost. Man mußte also nicht wie Hofmannsthal schon im
Gymnasium vollendet sein, man konnte wie Rilke tasten, versuchen, sich
formen, sich steigern. Man mußte sich nicht sofort aufgeben, weil man
vorläufig Unzulängliches, Unreifes, Unverantwortliches schrieb, und konnte
vielleicht statt des Wunders Hofmannsthal den stilleren, normaleren Aufstieg
Rilkes in sich wiederholen.
Denn daß wir alle längst zu schreiben oder zu dichten, zu musizieren oder
zu rezitieren begonnen hatten, war selbstverständlich; jede passiv-passionierte
Einstellung ist ja an sich schon unnatürlich für eine Jugend, denn es liegt in
ihrem Wesen, Eindrücke nicht nur aufzunehmen, sondern sie produktiv zu
erwidern. Theater zu lieben heißt für junge Menschen zumindest wünschen
und träumen: selbst auf dem Theater oder für das Theater zu wirken. Talent in
allen Formen ekstatisch zu bewundern, führt sie unwiderstehlich dazu, in sich
selbst Nachschau zu halten, ob nicht eine Spur oder Möglichkeit dieser
erlesensten Essenz in dem eigenen unerforschten Leib oder der noch halb
verdunkelten Seele zu entdecken wäre. So wurde in unserer Schulklasse
gemäß der Wiener Atmosphäre und den besonderen Bedingtheiten jener Zeit
der Trieb zur künstlerischen Produktion geradezu epidemisch. Jeder suchte in
sich ein Talent und versuchte es zu entfalten. Vier oder fünf von uns wollten
Schauspieler werden. Sie imitierten die Diktion unserer Burgschauspieler, sie
rezitierten und deklamierten ohne Unterlaß, nahmen heimlich schon
Schauspielstunden und improvisierten in den Schulpausen mit verteilten
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286