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frage, wann wir die Zeit fanden, alle diese Bücher zu lesen, überfüllt wie
unser Tag schon war mit Schul- und Privatstunden, so wird mir klar, daß es
gutenteils zum Schaden unseres Schlafs und damit unserer körperlichen
Frische geschah. Daß ich, obwohl ich morgens um sieben Uhr aufzustehen
hatte, je vor ein oder zwei Uhr nachts meine Lektüre aus der Hand gelegt
hätte, kam niemals vor – eine schlechte Gewohnheit, die ich übrigens damals
für immer annahm, selbst zur spätesten Nachtzeit noch eine Stunde oder zwei
zu lesen. So kann ich mich nicht erinnern, je anders als unausgeschlafen und
höchst mangelhaft gewaschen in letzter Minute zur Schule gejagt zu sein, das
Butterbrot im Laufen verzehrend; kein Wunder, daß wir bei all unserer
Intellektualität alle hager und grün aussahen wie unreifes Obst, überdies in
der Kleidung ziemlich verwahrlost. Denn jeder Heller unseres
Taschengeldes ging auf für Theater, Konzerte oder Bücher, und anderseits
legten wir wenig Gewicht darauf, den jungen Mädchen zu gefallen, wir, die
wir doch höheren Instanzen zu imponieren gedachten. Mit jungen Mädchen
spazierenzugehen, schien uns verlorene Zeit, da wir in unserer intellektuellen
Arroganz das andere Geschlecht von vornherein für geistig minderwertig
hielten und unsere kostbaren Stunden nicht mit flachem Geschwätz vertun
wollten. Einem jungen Menschen von heute begreiflich zu machen, bis zu
welchem Grade wir alles Sportliche ignorierten und sogar verachteten, dürfte
nicht leicht sein. Allerdings war im vorigen Jahrhundert die Sportwelle noch
nicht von England auf unseren Kontinent herübergekommen. Es gab noch
kein Stadion, wo hunderttausend Menschen vor Begeisterung tobten, wenn
ein Boxer dem anderen die Faust in die Kinnlade schmetterte; die Zeitungen
sandten noch nicht Berichterstatter, damit sie mit homerischem Aufschwung
über ein Hockeyspiel spaltenlang berichteten. Ringkämpfe, Athletenvereine,
Schwergewichtsrekorde galten zu unserer Zeit noch als eine Angelegenheit
der äußeren Vorstadt, und Fleischermeister und Lastträger bildeten ihr
eigentliches Publikum; höchstens der edlere, aristokratischere Rennsport
lockte, ein paarmal im Jahre, die sogenannte ›gute Gesellschaft‹ auf den
Rennplatz, nicht aber uns, denen jede körperliche Betätigung als blanker
Zeitverlust erschien. Mit dreizehn Jahren, als jene intellektuell-literarische
Infektion bei mir begann, stellte ich das Eislaufen ein, verwandte das von den
Eltern mir für eine Tanzstunde zugebilligte Geld für Bücher, mit achtzehn
konnte ich noch nicht schwimmen, nicht tanzen, nicht Tennis spielen; noch
heute kann ich weder radfahren noch chauffieren, und in sportlichen Dingen
vermag jeder Zehnjährige mich zu beschämen. Selbst heute, 1941, ist mir der
Unterschied zwischen Baseball und Fußball, zwischenHockey und Polo
höchst unklar, und der Sportteil einer Zeitung erscheint mir mit seinen
unerklärlichen Chiffren chinesisch geschrieben. Ich bin gegenüber allen
sportlichen Geschwindigkeits- oder Geschicklichkeitsrekorden unentwegt auf
dem Standpunkt des Schahs von Persien stehengeblieben, der, als man ihn
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286