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animieren wollte, einem Derby beizuwohnen, orientalisch weise äußerte:
»Wozu? Ich weiß doch, daß ein Pferd schneller laufen kann als das andere.
Welches, ist mir gleichgültig.« Ebenso verächtlich, wie unseren Körper zu
trainieren, schien es uns, Zeit mit Spiel zu vergeuden; einzig das Schach fand
einige Gnade vor unseren Augen, weil es geistige Anstrengung erforderte;
und – sogar noch absurder –, obwohl wir uns als werdende oder immerhin
potentielle Dichter fühlten, kümmerten wir uns wenig um die Natur. Während
meiner ersten zwanzig Jahre habe ich so gut wie nichts von der wundervollen
Umgebung Wiens gesehen; die schönsten und heißesten Sommertage, wenn
die Stadt verlassen war, hatten für uns sogar einen besonderen Reiz, weil wir
dann in unserem Kaffeehaus die Zeitungen und Revuen rascher und
reichhaltiger bekamen. Ich habe noch Jahre und Jahrzehnte gebraucht, um das
Gleichgewicht gegen diese kindisch-gierige Überspannung wiederzufinden
und die unvermeidliche körperliche Ungeschicklichkeit einigermaßen
wettzumachen. Aber im ganzen habe ich diesen Fanatismus, dieses nur durch
das Auge, nur durch die Nerven leben meiner Gymnasialzeit nie bereut. Es
hat mir eine Leidenschaftlichkeit zum Geistigen ins Blut getrieben, die ich nie
mehr verlieren möchte, und alles, was ich seitdem gelesen und gelernt, steht
auf dem gehärteten Fundament jener Jahre. Was man an seinen Muskeln
versäumt hat, holt sich später noch nach; der Aufschwung zum Geistigen, die
innere Griffkraft der Seele dagegen, übt sich einzig in jenen entscheidenden
Jahren der Formung, und nur wer früh seine Seele weit auszuspannen gelernt,
vermag später die ganze Welt in sich zu fassen.
Daß etwas Neues in der Kunst sich vorbereitete, etwas, das
leidenschaftlicher, problematischer, versucherischer war, als unsere Eltern
und unsere Umwelt befriedigt hatte, war das eigentliche Erlebnis unserer
Jugendjahre. Aber fasziniert von diesem einen Ausschnitt des Lebens,
merkten wir nicht, daß diese Verwandlungen im ästhetischen Raume nur
Ausschwingungen und Vorboten viel weiterreichender Veränderungen waren,
welche die Welt unserer Väter, die Welt der Sicherheit erschüttern und
schließlich vernichten sollten. Eine merkwürdige Umschichtung begann sich
in unserem alten, schläfrigen Österreich vorzubereiten. Die Massen, die
stillschweigend und gefügig der liberalen Bürgerschaft durch Jahrzehnte die
Herrschaft gelassen, wurden plötzlich unruhig, organisierten sich und
verlangten ihr eigenes Recht. Gerade in dem letzten Jahrzehnt brach die
Politik mit scharfen, jähen Windstößen in die Windstille des behaglichen
Lebens. Das neue Jahrhundert wollte eine neue Ordnung, eine neue Zeit.
Die erste dieser großen Massenbewegungen in Österreich war die
sozialistische. Bisher war bei uns das fälschlich so benannte ›allgemeine‹
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286