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Volksmund genannt –, hatte akademische Bildung und war nicht vergebens in
einem Zeitalter, das geistige Kultur über alles stellte, zur Schule gegangen. Er
konnte populär sprechen, war vehement und witzig, aber selbst in den
heftigsten Reden – oder solchen, die man zu jener Zeit als heftig empfand –
überschritt er nie den Anstand, und seinen Streicher, einen gewissen
Mechaniker Schneider, der mit Ritualmordmärchen und ähnlichen
Vulgaritäten operierte, hielt er sorgfältig im Zaum. Gegen seine Gegner
bewahrte er – unanfechtbar und bescheiden in seinem Privatleben – immer
eine gewisse Noblesse, und sein offizieller Antisemitismus hat ihn nie
gehindert, seinen früheren jüdischen Freunden wohlgesinnt und gefällig zu
bleiben. Als seine Bewegung schließlich den Wiener Gemeinderat eroberte
und er – nach zweimaliger Verweigerung der Sanktionierung durch den
Kaiser Franz Joseph, der die antisemitische Tendenz verabscheute – zum
Bürgermeister ernannt wurde, blieb seine Stadtverwaltung tadellos gerecht
und sogar vorbildlich demokratisch; die Juden, die vor diesem Triumph der
antisemitischen Partei gezittert hatten, lebten ebenso gleichberechtigt und
angesehen weiter. Noch war nicht das Haßgift und der Wille zu gegenseitiger
restloser Vernichtung in den Blutkreislauf der Zeit gedrungen.
Aber schon tauchte eine dritte Blume auf, die blaue Kornblume, Bismarcks
Lieblingsblume und Wahrzeichen der deutschnationalen Partei, die – man
verstand es nur damals nicht – eine bewußt revolutionäre war, die mit brutaler
Stoßkraft auf die Zerstörung der österreichischen Monarchie zugunsten eines
– Hitler vorgeträumten – Großdeutschlands unter preußischer und
protestantischer Führung hinarbeitete. Während die christlich-soziale Partei in
Wien und auf dem Lande, die sozialistische in den Industriezentren verankert
war, hatte die deutschnationale ihre Anhänger fast einzig in den böhmischen
und alpenländischen Randgebieten; zahlenmäßig schwach, ersetzte sie ihre
Unbeträchtlichkeit durch wilde Aggressivität und maßlose Brutalität. Ihre
paar Abgeordneten wurden der Terror und (im alten Sinn) die Schande des
österreichischen Parlaments; in ihren Ideen, in ihrer Technik hat Hitler,
gleichfalls ein Randösterreicher, seinen Ursprung. Von Georg Schönerer hat
er den Ruf ›Los von Rom!‹ übernommen, dem damals Tausende
Deutschnationale deutsch gehorsam folgten, um den Kaiser und den Klerus zu
verärgern, und vom Katholizismus zum Protestantismus übertraten, von ihm
die antisemitische Rassentheorie – ›In der Rass’ liegt die Schweinerei‹, sagte
ein illustres Vorbild –, von ihm vor allem den Einsatz einer rücksichtslosen,
blind dreinschlagenden Sturmtruppe und damit das Prinzip, durch Terror einer
kleinen Gruppe die zahlenmäßig weit überlegene, aber human-passivere
Majorität einzuschüchtern. Was für den Nationalsozialismus die SA-Männer
leisteten, die Versammlungen mit Gummiknüppeln zersprengten, Gegner
nachts überfielen und zu Boden hieben, besorgten für die Deutschnationalen
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286