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die Corpsstudenten, die unter dem Schutz der akademischen Immunität einen
Prügelterror ohnegleichen etablierten und bei jeder politischen Aktion auf Ruf
und Pfiff militärisch organisiert aufmarschierten. Zu sogenannten
›Burschenschaften‹ gruppiert, zerschmissenen Gesichts, versoffen und brutal,
beherrschten sie die Aula, weil sie nicht wie die andern bloß Bänder und
Mützen trugen, sondern mit harten, schweren Stöcken bewehrt waren;
unablässig provozierend, hieben sie bald auf die slawischen, bald auf die
jüdischen, die katholischen, die italienischen Studenten ein und trieben die
Wehrlosen aus der Universität. Bei jedem ›Bummel‹ (so hieß jener Samstag
der Studentenparade) floß Blut. Die Polizei, die dank dem alten Privileg der
Universität die Aula nicht betreten durfte, mußte von außen tatenlos zusehen,
wie diese feigen Radaubrüder wüteten, und durfte sich ausschließlich darauf
beschränken, die Verletzten, die blutend von den nationalen Rowdies die
Treppe hinab auf die Straße geschleudert wurden, fortzutragen. Wo immer die
winzige, aber maulaufreißerische Partei der Deutschnationalen in Österreich
etwas erzwingen wollte, schickte sie diese studentische Sturmtruppe vor; als
Graf Badeni unter Zustimmung des Kaisers und des Parlaments eine
Sprachenverordnung beschlossen hatte, die Frieden zwischen den Nationen
Österreichs schaffen sollte und wahrscheinlich den Bestand der Monarchie
noch um Jahrzehnte verlängert hätte, besetzte diese Handvoll junger,
verhetzter Burschen die Ringstraße. Kavallerie mußte ausrücken, es wurde
mit dem Säbel zugeschlagen und geschossen. Aber so groß war in jener
tragisch schwachen und rührend humanen liberalen Ära der Abscheu vor
jedem gewalttätigen Tumult und jedem Blutvergießen, daß die Regierung vor
dem deutschnationalen Terror zurückwich. Der Ministerpräsident
demissionierte, und die durchaus loyale Sprachenverordnung wurde
aufgehoben. Der Einbruch der Brutalität in die Politik hatte seinen ersten
Erfolg zu verzeichnen. Alle die unterirdischen Risse und Sprünge zwischen
den Rassen und Klassen, die das Zeitalter der Konzilianz so mühsam
verkleistert hatte, brachen auf und wurden Abgründe und Klüfte. In
Wirklichkeit hatte in jenem letzten Jahrzehnt vor dem neuen Jahrhundert der
Krieg aller gegen alle in Österreich schon begonnen.
Wir jungen Menschen aber, völlig eingesponnen in unsere literarischen
Ambitionen, merkten wenig von diesen gefährlichen Veränderungen in
unserer Heimat: wir blickten nur auf Bücher und Bilder. Wir hatten nicht das
geringste Interesse für politische und soziale Probleme: was bedeuteten diese
grellen Zänkereien in unserem Leben? Die Stadt erregte sich bei den Wahlen,
und wir gingen in die Bibliotheken. Die Massen standen auf, und wir
schrieben und diskutierten Gedichte. Wir sahen nicht die feurigen Zeichen an
der Wand, wir tafelten wie weiland König Belsazar unbesorgt von all den
kostbaren Gerichten der Kunst, ohne ängstlich vorauszublicken.Und erst als
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286