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und mit schroffem Verbot und – besonders im calvinistischen Genf – mit
grausamen Strafen ihre harte Moral durchgezwungen. Unser Jahrhundert
dagegen, als eine tolerante, längst nicht mehr teufelsgläubige und kaum mehr
gottgläubige Epoche brachte nicht mehr den Mut auf zu einem solchen
radikalen Anathema, aber es empfand die Sexualität als ein anarchisches und
darum störendes Element, das sich nicht in ihre Ethik eingliedern ließ, und
das man nicht am lichten Tage schalten lassen dürfe, weil jede Form einer
freien, einer außerehelichen Liebe dem bürgerlichen ›Anstand‹ widersprach.
In diesem Zwiespalt erfand nun jene Zeit ein sonderbares Kompromiß.
Sie beschränkte ihre Moral darauf, dem jungen Menschen zwar nicht zu
verbieten, seine vita sexualis auszuüben, aber sie forderte, daß er diese
peinliche Angelegenheit in irgendeiner unauffälligen Weise erledigte. War die
Sexualität schon nicht aus der Welt zu schaffen, so sollte sie wenigstens
innerhalb ihrer Welt der Sitte nicht sichtbar sein. Es wurde also die
stillschweigende Vereinbarung getroffen, den ganzen ärgerlichen Komplex
weder in der Schule, noch in der Familie, noch in der Öffentlichkeit zu
erörtern und alles zu unterdrücken, was an sein Vorhandensein erinnern
könnte.
Für uns, die wir seit Freud wissen, daß, wer natürliche Triebe aus dem
Bewußtsein zu verdrängen sucht, sie damit keineswegs beseitigt, sondern nur
ins Unterbewußtsein gefährlich verschiebt, ist es leicht, heute über die
Unbelehrtheit jener naiven Verheimlichungstechnik zu lächeln. Aber das
ganze neunzehnte Jahrhundert war redlich in dem Wahn befangen, man könne
mit rationalistischer Vernunft alle Konflikte lösen, und je mehr man das
Natürliche verstecke, desto mehr temperiere man seine anarchischen Kräfte;
wenn man also junge Leute durch nichts über ihr Vorhandensein aufkläre,
würden sie ihre eigene Sexualität vergessen. In diesem Wahn, durch
Ignorieren zu temperieren, vereinten sich alle Instanzen zu einem
gemeinsamen Boykott durch hermetisches Schweigen. Schule und kirchliche
Seelsorge, Salon und Justiz, Zeitung und Buch, Mode und Sitte vermieden
prinzipiell jedwede Erwähnung des Problems, und schmählicherweise schloß
sich sogar die Wissenschaft, deren eigentliche Aufgabe es doch sein sollte, an
alle Probleme gleich unbefangen heranzutreten, diesem ›naturalia sunt turpia‹
an. Auch sie kapitulierte unter dem Vorwand, es sei unter der Würde der
Wissenschaft, solche skabrösen Themen zu behandeln. Wo immer man in den
Büchern jener Zeit nachblättert, in den philosophischen, juristischen und
sogar in den medizinischen, wird man übereinstimmend finden, daß jeder
Erörterung ängstlich aus dem Wege gegangen wird. Wenn Strafrechtsgelehrte
bei Kongressen die Humanisierungsmethoden in den Gefängnissen und die
moralischen Schädigungen des Zuchthauslebens diskutierten, huschten sie an
dem eigentlich zentralen Problem scheu vorbei. Ebensowenig wagten
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286