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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Nervenärzte, obwohl sie sich in vielen Fällen über die Ätiologie mancher hysterischen Erkrankung vollkommen im klaren waren, den Sachverhalt zuzugeben, und man lese bei Freud nach, wie selbst sein verehrter Lehrer Charcot ihm privatim gestand, daß er die wahre Causa wohl kenne, nie aber öffentlich verlautbart habe. Am allerwenigsten durfte sich die – damals so benannte – ›schöne‹ Literatur an aufrichtige Darstellungen wagen, weil ihr ausschließlich das Ästhetisch-Schöne als Domäne zugewiesen war. Während in früheren Jahrhunderten der Schriftsteller sich nicht scheute, ein ehrliches und umfassendes Kulturbild seiner Zeit zu geben, während man bei Defoe, bei Abbé Prévost, bei Fielding und Rétif de la Bretonne noch unverfälschten Schilderungen der wirklichen Zustände begegnet, meinte jene Epoche nur das ›Gefühlvolle‹ und das ›Erhabene‹ zeigen zu dürfen, nicht aber auch das Peinliche und das Wahre. Von allen Fährnissen, Dunkelheiten, Verwirrungen der Großstadtjugend findet man darum in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts kaum einen flüchtigen Niederschlag. Selbst wenn ein Schriftsteller kühn die Prostitution erwähnte, so glaubte er sie veredeln zu müssen und parfümierte die Heldin zur ›Kameliendame‹. Wir stehen also vor der sonderbaren Tatsache, daß, wenn ein junger Mensch von heute, um zu wissen, wie die Jugend der vorigen und vorvorigen Generation sich durchs Leben kämpfte, die Romane auch der größten Meister jener Zeit aufschlägt, die Werke von Dickens und Thackeray, Gottfried Kellerund Björnson, er – außer bei Tolstoi und Dostojewskij, die als Russen jenseits des europäischen Pseudo-Idealismus standen – ausschließlich sublimierte und temperierte Begebnisse dargestellt findet, weil diese ganze Generation durch den Druck der Zeit in ihrer freien Aussage gehemmt war. Und nichts zeigt deutlicher die fast schon hysterische Überreiztheit dieser Vorvätermoral und ihre heute schon unvorstellbare Atmosphäre, als daß selbst diese literarische Zurückhaltung noch nicht genügte. Denn kann man es noch fassen, daß ein so durchaus sachlicher Roman wie ›Madame Bovary‹ von einem öffentlichen französischen Gericht als unzüchtig verboten wurde? Daß in der Zeit meiner Jugend Zolas Romane als pornographisch galten oder ein so ruhiger klassizistischer Epiker wie Thomas Hardy Stürme der Entrüstung in England und Amerika erregte? So zurückhaltend sie waren, diese Bücher hatten schon zuviel verraten von den Wirklichkeiten. Aber in dieser ungesund stickigen, mit parfümierter Schwüle durchsättigten Luft sind wir aufgewachsen. Diese unehrliche und unpsychologische Moral des Verschweigens und Versteckens war es, die wie ein Alp auf unserer Jugend gelastet hat, und da die richtigen literarischen und kulturgeschichtlichen Dokumente dank dieser solidarischen Verschweigetechnik fehlen, mag es nicht leicht sein, das schon unglaubwürdig Gewordene zu rekonstruieren. Ein gewisser Anhaltspunkt ist 58
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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