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akademisch Gebildeter und Graduierter oder ein Offizier – kein anderer unter
den Millionen konnte der besonderen Art ›Ehre‹ teilhaftig werden, mit einem
solchen bartlosen dummen Jungen die Klinge zu kreuzen. Anderseits mußte
man, um als ›richtiger‹ Student zu gelten, seine Mannhaftigkeit ›bewiesen‹
haben, das heißt, möglichst viele Duelle bestanden haben und sogar die
Wahrzeichen dieser Heldentaten als ›Schmisse‹ im Gesicht tragen; blanke
Wangen und eine nicht eingehackte Nase waren eines echt germanischen
Akademikers unwürdig. So sahen sich die Couleurstudenten, das heißt solche,
die einer farbentragenden Verbindung angehörten, genötigt, um immer neue
›Partien schlagen‹ zu können, sich gegenseitig und andere völlig friedfertige
Studenten und Offiziere unablässig zu provozieren. In den ›Verbindungen‹
wurde auf dem Fechtboden jeder neue Student für diese würdige
Haupttätigkeit ›eingepaukt‹ und auch sonst in die Gebräuche des
Burschenschaftswesens eingeweiht. Jeder ›Fuchs‹, das heißt jeder Neuling,
wurde einem Corpsbruder zugeteilt, dem er sklavischen Gehorsam zu leisten
hatte und der ihn dafür in den edlen Künsten des ›Komments‹ unterwies, die
da waren: bis zum Erbrechen zu saufen, einen schweren Humpen Bier in
einem Satz bis zur Nagelprobe (bis zum letzten Tropfen) zu leeren, um so
glorreich zu erhärten, daß er kein ›schlapper Bursche‹ sei, oder
Studentenlieder im Chor zu brüllen und im Gänsemarsch nachts durch die
Straßen randalierend die Polizei zu verhöhnen. All das galt als ›männlich‹, als
›studentisch‹, als ›deutsch‹, und wenn die Burschenschaften mit ihren
wehenden Fahnen, bunten Kappen und Bändern samstags zum ›Bummel‹
aufzogen, fühlten sich diese einfältigen, durch ihr eigenes Treiben in einen
sinnlosen Hochmut getriebenen Jungen als die wahren Vertreter der geistigen
Jugend. Mit Verachtung sahen sie auf den ›Pöbel‹ herab, der diese
akademische Kultur und deutsche Männlichkeit nicht gebührend zu würdigen
verstand.
Für einen kleinen Provinzgymnasiasten, der als grüner Junge nach Wien
kam, mochte wohl diese Art forscher und ›fröhlicher Studentenzeit‹ als
Inbegriff aller Romantik gelten. Noch jahrzehntelang sahen in der Tat die
bejahrten Notare und Ärzte in ihren Dörfern weinselig gerührt empor zu den
in ihrem Zimmer gekreuzt aufgehängten Schlägern und bunten Attrappen,
stolz trugen sie ihre Schmisse als Kennzeichen ihres ›akademischen‹ Standes.
Auf uns dagegen wirkte dieses einfältige und brutale Treiben einzig
abstoßend, und wenn wir einer dieser bebänderten Horden begegneten,
wichen wir weise um die Ecke; denn uns, denen individuelle Freiheit das
Höchste bedeutete, zeigte diese Lust an der Aggressivität und gleichzeitige
Lust an der Hordenservilität zu offenbar das Schlimmste und Gefährlichste
des deutschen Geistes. Überdies wußten wir, daß hinter dieser künstlich
mumifizierten Romantik sich sehr schlau berechnete, praktische Ziele
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286