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versteckten, denn die Zugehörigkeit zu einer ›schlagenden‹ Burschenschaft
sicherte jedem Mitglied die Protektion der ›alten Herren‹ dieser Verbindung
in den hohen Ämtern und erleichterte die spätere Karriere. Von den Bonner
›Borussen‹ führte der einzig sichere Weg in die deutsche Diplomatie, von den
katholischen Verbindungen in Österreich zu den guten Pfründen der
herrschenden christlich-sozialen Partei, und die meisten dieser ›Helden‹
wußten genau, daß ihre farbigen Bänder ihnen in Hinkunft ersetzten mußten,
was sie an eindringlichen Studien versäumt, und daß ein paar Schmisse auf
der Stirne ihnen bei einer Anstellung einmal förderlicher sein konnten, als
was hinter dieser Stirne war. Schon der bloße Anblick dieser rüden,
militarisierten Rotten, dieser zerhackten und frech provozierenden Gesichter
hat mir den Besuch der Universitätsräume verleidet; auch die anderen,
wirklich lernbegierigen Studenten vermieden, wenn sie in die
Universitätsbibliothek gingen, die Aula und wählten lieber die unscheinbare
Hintertür, um jeder Begegnung mit diesen tristen Helden zu entgehen.
Daß ich an der Universität studieren sollte, war im Rate der Familie von je
beschlossen gewesen. Aber für welche Fakultät mich entscheiden? Meine
Eltern ließen mir die Wahl vollkommen frei. Mein älterer Bruder war bereits
in das väterliche Industrieunternehmen eingetreten, demgemäß lag für den
zweiten Sohn keinerlei Eile vor. Es handelte sich schließlich doch nur darum,
der Familienehre einen Doktortitel zu sichern, gleichgültig welchen. Und
sonderbarerweise war die Wahl mir ebenso gleichgültig. An sich interessierte
mich, der ich meine Seele längst der Literatur verschrieben, keine einzige der
fachmäßig dozierten Wissenschaften, ich hatte sogar ein geheimes, noch
heute nicht verschwundenes Mißtrauen gegen jeden akademischen Betrieb.
Für mich ist Emersons Axiom, daß gute Bücher die beste Universität ersetzen,
unentwegt gültig geblieben, und ich bin noch heute überzeugt, daß man ein
ausgezeichneter Philosoph, Historiker, Philologe, Jurist und was immer
werden kann, ohne je eine Universität oder sogar ein Gymnasium besucht zu
haben. Zahllose Male habe ich im praktischen Leben bestätigt gefunden, daß
Antiquare oft besser Bescheid wissen über Bücher als die zuständigen
Professoren, Kunsthändler mehr verstehen als die Kunstgelehrten, daß ein
Großteil der wesentlichen Anregungen und Entdeckungen auf allen Gebieten
von Außenseitern stammt. So praktisch, handlich und heilsam der
akademische Betrieb für die Durchschnittsbegabung sein mag, so entbehrlich
scheint er mir für individuell produktive Naturen, bei denen er sich sogar im
Sinn einer Hemmung auszuwirken vermag. Insbesondere an einer Universität
wie der unsern in Wien mit ihren sechs- oder siebentausend Studenten, die
durch Überfüllung den so fruchtbaren persönlichen Kontakt zwischen Lehrern
und Schülern von vornherein hemmte und überdies durch allzu große Treue
zu ihrer Tradition gegen die Zeit zurückgeblieben war, sah ich nicht einen
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286