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einzigen Mann, der mich für seine Wissenschaft hätte faszinieren können. So
wurde das eigentliche Kriterium meiner Wahl nicht, welches Fach mich am
meisten innerlich beschäftigen würde, sondern im Gegenteil, welches mich
am wenigsten beschweren und mir das Maximum an Zeit und Freiheit für
meine eigentliche Leidenschaft verstatten könnte. Ich entschloß mich
schließlich für Philosophie – oder vielmehr ›exakte‹ Philosophie, wie es bei
uns nach dem alten Schema hieß –, aber wahrhaftig nicht aus einem Gefühl
innerer Berufung, denn meine Fähigkeiten zu rein abstraktem Denken sind
gering. Gedanken entwickeln sich bei mir ausnahmslos an Gegenständen,
Geschehnissen und Gestalten, alles rein Theoretische und Metaphysische
bleibt mir unerlernbar. Immerhin war hier das rein stoffliche Gebiet am
eingeschränktesten, der Besuch von Vorlesungen oder Seminaren in der
›exakten‹ Philosophie am leichtesten zu umgehen. Alles, was not tat, war, am
Ende des achten Semesters eine Dissertation einzureichen und einige
Prüfungen zu machen. So legte ich mir von vornherein eine Zeiteinteilung
zurecht: drei Jahre um das Universitätsstudium mich überhaupt nicht
bekümmern! Dann in dem einen letzten Jahr in scharfer Anstrengung den
scholastischen Stoff bewältigen und irgendeine Dissertation rasch
fertigmachen! Dann hatte die Universität mir gegeben, was einzig ich von ihr
wollte: ein paar Jahre voller Freiheit für mein Leben und für die Bemühung in
der Kunst: universitas vitae.
Überblicke ich mein Leben, so kann ich mich an wenige so glückliche
Augenblicke erinnern wie jene ersten dieser Universitätszeit ohne Universität.
Ich war jung und hatte darum noch nicht das Gefühl der Verantwortung,
Vollendetes leisten zu müssen. Ich war leidlich unabhängig, der Tag hatte
vierundzwanzig Stunden, und alle gehörten mir. Ich konnte lesen und
arbeiten, was ich wollte, ohne irgend jemandem Rechenschaft schuldig zu
sein, die Wolke der akademischen Prüfung rührte noch nicht an den hellen
Horizont, denn wie lang sind drei Jahre, gemessen am neunzehnten
Lebensjahr, wie reich, wie füllig und wie voll von Überraschungen und
Geschenken kann man sie gestalten!
Das erste, was ich begann, war, meine Gedichte in einer – wie ich meinte:
unerbittlichen – Auslese zu sammeln. Ich schäme mich nicht, zu bekennen,
daß mir eben absolvierten neunzehnjährigen Gymnasiasten als der süßeste
Geruch auf Erden, süßer als das Öl der Rosen von Schiras, damals jener der
Druckerschwärze erschien; jede Annahme eines Gedichts in irgendeiner
Zeitung hatte meinem von Natur aus sehr schwachbeinigen Selbstbewußtsein
einen neuen Anschwung gegeben. Sollte ich nicht jetzt schon ansetzen zu
dem entscheidenden Sprunge und die Veröffentlichung eines ganzen Bandes
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286